Kolumne Südpost: Der unendliche Prozess
Kafka öffnet uns die Augen für die Ungerechtigkeit, den Terror der Institutionen und die Brutalität totalitärer Systeme. Doch wem gehört er?
K aum ein deutschsprachiger Autor hat solchen Ruhm erreicht wie der Prager Franz Kafka. Seine Werke haben weltweit ganze Generationen geprägt und ungeachtet von Sprache, Hautfarbe oder Religion hat er überall Seelenverwandte. Auch jene, die seine Existenzangst teilen und vom obdachlosen Umherirren des Menschen schreiben, sind über den Erdball verstreut.
Die Liste der von Kafka geprägten Schriftsteller ist lang: William Faulkner, García Márquez, George Orwell, Milan Kundera, Orhan Pamuk. Solchen Einfluss hätte Kafka sich vielleicht gewünscht, aber sich nie in diesem Ausmaß erträumt.
Kafka öffnet uns die Augen für die Ungerechtigkeit, den Terror der Institutionen und die Brutalität der Maschinerie totalitärer Systeme. Darum ist es auch nicht verwunderlich, wenn man sich dabei wiederfindet, über die Verteidigung der Freiheit und den Widerstand gegen totalitäre Systeme zu schreiben, obwohl man eigentlich über Kafkas Ästhetik als Teil des kulturellen Erbes der Menschheit hatte sprechen wollen.
ist irakischer Schriftsteller und lebt in Berlin. Er veröffentlichte 2011 den Roman „Engel des Südens“.
Kafka hat mit seinem Satz: „Der Weg zum Nebenmenschen ist für mich sehr lang“, recht behalten. Denn was er sich wohl nie gedacht hätte: dass er auseinandergerissen, missinterpretiert oder zu einem Erbstreitthema würde. Oder ahnte er es doch und wünschte darum in seinem Testament die Verbrennung seines Nachlasses? Ein Wunsch, den sein Freund und Interpret Max Brod ihm nicht erfüllen wollte.
Spielball der Interessen
Ausgerechnet Kafka, der 1924 einsam und arm in einem Sanatorium in Kierling (heute Klosterneuburg) in Österreich verstarb, wird viel später Opfer von Politik, Geldgier und Intrigen. Kafka, der nie religiös oder ideologisch agiert hatte, wird, nachdem seine Werke weltweit bekannt geworden sind, von den Köchen der Ideologien je nach Bedarf zerlegt, neu gemischt und serviert.
In arabischen Ländern, insbesondere im Schatten jener Regime, die sich selbst als „Volksrepubliken“ bezeichneten, der Erben des inzwischen ausgestorbenen „sozialistischen Realismus“, erlitt Kafka dabei ein besonders absurdes Schicksal: In den 1970er Jahren nahm die Kampagne gegen Kafka ihren Anfang im Irak Saddam Husseins. Dabei wurde Kafkas jüdische Herkunft, die ihm schon im Europa des Antisemitismus ungerechte Behandlung eingetragen hatte, in Form einer Beschuldigung auf abscheulichste Weise gegen ihn gewendet.
Im Irak überrumpelte uns damals eine Reihe von Studien über zionistische Literatur, in denen Kafkas Name ganz oben stand. Zionismus heißt Israel. Das hieß auch, Kafka verteidigt den Staat Israel, den Hauptfeind der Araber. Er wurde mit Israel in Zusammenhang gebracht, obwohl Israel doch erst 24 Jahre nach Kafkas Tod entstand.
Der Nachlass nach Jerusalem
Als ein israelisches Gericht jüngst nach jahrelangem Rechtsstreit entschied, dass Kafkas Nachlass an die israelische Nationalbibliothek in Jerusalem gehe, begrüßte ein Kurator der Bibliothek das Urteil mit der Begründung, Kafka, der weder in Jerusalem noch im damaligen Palästina gewesen ist, gehöre selbstverständlich zu Jerusalem.
Als Beweis zeigte er ein altes Heft, in dem Kafka ein paar hebräische Sätze notiert hatte. Kafka wollte in seinen letzten Tagen Hebräisch lernen, so der Kurator, um nach Jerusalem zu kommen, und nur der Tod hinderte ihn. In „Der Prozess“ wird Josef K. dem Gericht in einer Sache vorgeführt, mit der er nichts zu tun hat. Fast genau wie seinem Helden ergeht es Kafka jetzt. Er wird zur Mitgliedschaft in einer Nation verurteilt.
Mal war er Österreicher, mal Deutscher, mal Zionist, jetzt Israeli und, weil er 1883 in Prag (damals Österreich-Ungarn) geboren ist, könnte er, sobald der Populist Viktor Orbán sein ungarisches Reich errichtet hat, vielleicht noch Ungar werden. Aber gehört Kafka überhaupt zu einer Nation? Kann man ihn einem Klan zuordnen? Kaum. Denn wie alle Großen der Weltliteratur gehört Kafka nur sich selbst.
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