Kolumne Speckgürtel: Weißes Rauschen von acht bis drei
Dass die Schule begonnen hat, sehe ich im Mülleimer. Was in der Schule läuft, bleibt süßes Geheimnis der Pubertistin.
Die Schule hat wieder begonnen. Allmorgendlich macht sich die Pubertistin daran, pünktlich das Haus zu verlassen. Zu Gesprächen ist sie zu dieser Tageszeit schlicht noch nicht in der Lage. Kurz vor sieben betritt sie perfekt frisiert und geschminkt die Küche, verklappt ihre Schulbrote von gestern ungeniert in den Mülleimer, packt den von mir frisch zubereiteten Toast und das mundgerecht geschnippelte Obst in die Stullendose, mault höchstens noch ein bisschen, dass die Geschmacksrichtung des Fertiggetränks nicht ihren Ansprüchen genügt ("Ich sagte doch: keine Birne mehr!"), fährt anschließend in ein viel zu dünnes und kurzes Jäckchen und verschwindet schließlich grußlos gen Gymnasium.
Was sie da so treibt zwischen acht und drei Uhr, entzieht sich meiner Kenntnis. Nachfragen sind zwecklos. Beim Abendessen beiläufig darauf angesprochen ("Und, wie wars in der Schule?"), kommt wie aus der Pistole geschossen das tägliche "Gut." Nachfragen zwecklos. "Was soll da schon sein, is halt Schule", sagt das Kind und stochert lustlos in seinem Essen.
Dabei gäbe es einiges zu besprechen. Finde ich jedenfalls. Zum Beispiel, ob die neu eingestellte Englischlehrerin noch auftaucht. Die hat zwar offenbar einen Arbeitsvertrag unterschrieben, der vorsieht, dass sie an fünf Tagen in der Woche dem hoffnungsvollen Nachwuchs diese schöne Fremdsprache näherbringt, ist aber seit zweieinhalb Wochen nicht erschienen. Statt eines Einstandssekts fürs Kollegium hat sie eine Krankschreibung geschickt. So richtig rechnet wohl niemand mehr mit ihr.
Woher ich das weiß? Nicht von der Pubertistin natürlich. Wer maulfaule Kinder hat, muss zur Elternversammlung gehen, wo interessierte Erziehungsberechtigte über das Nötigste auf dem Laufenden gehalten werden.
Gestern war es wieder so weit. Der Klassenlehrer trug uns vollständig angerückten Eltern vor, was in diesem Jahr von Belang sein würde: Prüfungen im Frühsommer, die Klassenreise im Herbst und, ganz wichtig, die Verfügungstage. Hierbei handelt es sich um Termine, an denen die Schule zugeschlossen wird, um für Schüler und Lehrer aus anderthalb zwei Wochen Ferien zu organisieren. Anders als zu Grundschulzeiten, wo wir dann immer nicht recht wussten, wohin mit dem Kind, ist uns das jetzt wurscht. Sind halt zwei Tage mehr, an denen die Pubertistin bis 14 Uhr schlafen kann, um sich für den Rest des Tages ins Internet zu begeben.
Unter dem Tagesordnungspunkt "Sonstiges" tauchte schließlich die absente Englischlehrerin auf. Die Rede war von "umgesetzte Kollegin", "siebzig Kilometer entfernt wohnend" sowie "Krankschreibung". Nun werde erst einmal abgewartet, was der behandelnde Arzt sagt. Super. Es ist nicht so, dass man uns Eltern mit derlei noch großartig schocken könnte. Im ersten Gymnasiumsjahr zum Beispiel fehlte ein Physiklehrer.
Der Mann war schon Stadtgespräch, weil er es über einen Zeitraum von zwei Jahren verstanden hatte, sich immer exakt sechs Wochen krankschreiben zu lassen, dann drei volle Tage durchs Schulgebäude zu geistern, um hernach … Sie ahnen es bereits? Richtig: exakt sechs Wochen. Im Kollegium hoffte man auf seinen 58. Geburtstag, danach könnte er sich in den Vorruhestand verabschieden, und das Schulamt würde ganz in Ruhe beginnen Ersatz zu suchen. Ich erwog, dem großen Unbekannten einen Dankesbrief zu schreiben, als er seine Stelle endlich freimachte.
Dann war da noch die Deutschlehrerin, die nach einer miserabel ausgefallenen Hausarbeit unseren Kindern empfahl, ihre Aufgaben "nicht immer zwischen Arschabwischen und Spülungdrücken" zu machen. Oder die Grundschullehrerin, die bei einem schweren Fahrradunfall leider irreparable Hirnschädigungen davongetragen hatte und deshalb zu ihren Drittklässlern nicht mehr in vollständigen Sätzen sprechen konnte. Sie tat mir leid, und sie war auch wirklich nett. Aber das Chaos im Unterricht war Legende.
Na ja, und nun hat die Pubertistin halt keine Englischlehrerin. Ich kann nicht behaupten, dass unter uns Eltern eine Revolte ausgebrochen wäre. Wir beschlossen ohne Gegenstimmen, uns beim Schulamt zu beschweren. Wow! Und der Klassenlehrer riet uns, mal unter unseren Bekannten rumzufragen, ob jemand einen Englischlehrer kennt, der bereit wäre, im Speckgürtel zu arbeiten. Wie siehts aus, haben Sie grad nichts Besseres vor?
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