Kolumne Provinz: Danke, liebe Tanke
Ich werde meine Shell-Tankstelle sehr vermissen. Bald ziehe ich fort aus Kirchentellinsfurt.
Zehn Jahre sind es jetzt, dass ich die Benzinpreise besser kenne als die Geburtstage meiner lieben Verwandten. Man könnte mich nachts aus dem Tiefschlaf reißen und mich fragen: Was kostet ein Liter Diesel? Einseinundzwanzigkommaneun würde ich wie aus der Pistole geschossen rufen, und Super bleifrei 142,9. V-Power-Racing der Liter 161,9 - aber das tankt sowieso nie jemand.
Ich stehe am Morgen mit den Benzinpreisen auf und ich gehe am Abend mit ihnen ins Bett. Sie leuchten shellgelb in meine Küche, in mein Schlafzimmer, in mein Klo, und wenn ich auch nur des Wetters wegen aus dem Fenster schaue, so fällt mein Blick doch immer erst auf die Leuchtanzeige mit der Muschel oben drauf und ich vergesse, ob es regnet oder ob die Sonne scheint.
Seit zehn Jahren wohne ich nun schon direkt neben einer 24-Stunden-Tankstelle, ja, man kann sagen, der Ort, in dem ich lebe, ist eine Tanke mit angeschlossenem Dorf. Die Tankstelle ist der Mittelpunkt der Gemeinschaft, nirgendwo anders ist Kirchentellinsfurt so lebendig wie hier. Selbst um vier Uhr in der Nacht gibt es Menschen, die Benzin oder Wodka benötigen. Vergangenen Sommer wachte ich vom Geschrei eines Mannes auf und dachte schon, es sei etwas passiert. Doch als ich aus dem Fenster sah, stand nur ein Betrunkener auf dem Dach seines Autos, pinkelte von oben herab auf den Asphalt und schrie vor Freude, sodass ich mich beruhigt wieder schlafen legte.
Nur einmal wurde ich wütend. Als sie wieder mit ihren getuneten BMWs auf dem Parkplatz bei "Luft und Wasser" standen, die Bässe der Musikanlage so laut, dass die Küchenscheiben dröhnten. Da nahm ich ein Ei, warf es hinunter und es landete direkt auf dem Dach des Wagens. Einer stieg aus, schaute das Ei auf seinem Autodach lange an und stierte danach minutenlang in den Himmel auf der Suche nach dem dazugehörigen Vogel.
Ansonsten bin ich gnädig mit jenen Menschen, die ihr Reifenprofil auf dem Asphalt hinterlassen, die von ihren Autodächern pinkeln oder einfach nur mitten in der Nacht laut brüllen, weil das Leben in Kirchentellinsfurt so schön ist. Als sich ein 17-jähriger Jugendlicher vor zwei Jahren an der Tankstelle dermaßen betrank, dass er auf den Eisenbahnschienen nach Hause laufen wollte und dabei von einem Zug getötet wurde, habe ich in einer Zeitung darüber geschrieben und die Frage gestellt, ob es gut war, ihm um drei Uhr morgens noch eine Flasche Wodka zu verkaufen. Seit diesem Artikel schaut mich die Frau des Tankstellenbesitzers immer sehr böse an, wenn ich mir Zigaretten kaufe oder Eier, weil ich auch Sonntags gerne rauche und Pfannenkuchen esse.
Nur ein Rätsel habe ich nie gelöst: warum der Benzinpreis immer montagnachmittags am niedrigsten ist. Wie ein Naturgesetz dreht sich die elektronische Anzeigetafel am Montagnachmittag auf den jeweiligen Tiefpunkt der Woche, um wenige Stunden später, meist pünktlich um 20.30 Uhr, um sechs bis acht Cent wieder anzusteigen. Das kann nichts mit dem Weltmarktpreis zu tun haben, denn das Barrel Rohöl kostet montagnachmittags in Rotterdam nicht mehr oder weniger als am Dienstagvormittag. Es muss etwas mit Psychologie, mit Aberglauben oder mit ausgeklügelter Verkaufsstrategie zu tun haben. Ich weiß es nicht und werde es wohl nie erfahren. Denn ich ziehe bald fort von hier.
Nicht wegen, sondern trotz der Tanke. Ich ziehe demnächst in eine Stadt und ich fürchte, dort wird es ruhig sein in der Nacht. Ich werde nachts durchschlafen und von Albträumen verfolgt werden, dass die Welt untergegangen ist.
Ich werde sie vermissen.
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