Kolumne Pressschlag: Keine Brasilianer mehr im Breisgau
Die Bundesligaklubs mit dem wenigsten Geld hängen ganz hinten. Nur der SC Freiburg nicht. Trotz drittniedrigstem Etat liegt er auf Rang 7.
F rüher nannte man die Spieler des SC Freiburg Breisgaubrasilianer. Das traf es nie so richtig und trifft es jetzt gar nicht mehr. Das Problem fängt schon damit an, dass die Brasilianer auch keine Brasilianer mehr sind. Jedenfalls nicht mehr in der früher mitschwingenden Bedeutung der schön spielenden Ballkünstler. In der komplexen Fußballmoderne muss man schon etwas genauer hinschauen, wenn man das Alleinstellungsmerkmal der Freiburger erkennen will.
Tabellarisch ist es evident: Von den fünf Teams der Bundesliga mit den fünf niedrigsten Spieler-Durchschnittsgehältern liegen vier vor dem 28. Spieltag auf den letzten vier Plätzen: das ökonomisch weit abgeschlagene Darmstadt, Ingolstadt, Augsburg, Mainz. Aber der SC mit dem drittniedrigsten Etat liegt auf Rang 7.
Nun sind gerade Mainz und Augsburg, mit Abstrichen Ingolstadt, die gelungenen Modernisierungsprojekte des letzten Jahrzehnts. Orte, an denen man nicht von Fußballtradition geschwafelt, sondern sie geschaffen hat. Dass alle drei gegen den Abstieg kämpfen, zeigt, wie wichtig Einzelne in Fußballunternehmen sind, hier die zu Saisonbeginn gewechselten Ralph Hasenhüttl, Markus Weinzierl, Christian Heidel.
Wie fragil Fußballgebäude sind, die durch winzige Risse implodieren können. Und dass es immer auch ökonomisch Potentere braucht, die unfassbar viel falsch machen. In dieser Beziehung ruhen die Hoffnungen der drei auf dem HSV und auf Wolfsburg.
Augsburg ist im sechsten Jahr, Mainz im elften (bei einem Abstieg), der SC ist bei 17 Jahren Bundesliga angekommen. Die größte Leistung besteht darin, dass kaum einer weiß, dass er im Moment offiziell mal wieder „Aufsteiger“ ist.
Cheftrainer Streich ist der Kopf
Dank Volker Finke hat man eine Struktur schaffen können, die den Abstieg genauso beinhaltet wie den Wiederaufstieg. Die nicht nur eigene Spieler entwickelt, sondern auch eigene Trainerteams und Manager. Cheftrainer Christian Streich ist der Kopf, der die Kultur nach außen verkörpert und nach innen lebt.
Die Rechten von heute rufen „Lügenpresse“, weil sie sich durch die etablierten Medien nicht vertreten fühlen – ähnlich wie 1968 die Linken. Lesen Sie in der taz.am wochenende vom 8./9. April einen Essay über die Karriere eines Kampfbegriffs. Außerdem: Eine Reportage über einen Hotelier in Bautzen, der Flüchtlinge einziehen ließ und als Herbergsvater glücklich wurde – bis Brandsätze flogen. Und: Wie der Oscar der Glaubwürdigkeit des Schwulen-Dramas „Moonlight“ geschadet hat. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Selbstverständlich spielt der SC nicht mehr nach dem scheinbar brasilianischen Kurzpassdogma aus Finkes Zeiten. Die Basis des Erfolgs ist gemeinsames Verteidigen, wie überall. Aber er spielt eben nicht nur gegen den Ball und auf der Lauer nach dem Fünf-Sekunden-Tempokonter, dieses angstgetriebene „Gemurkse“ (Mario Gómez), das die meisten Kleinen prägt und daher nun auch Teams wie Werder Bremen.
Streich dagegen pflegt die Varianz, die heute auch den Oben-Fußball der Großen auszeichnet. Gegen den Ball laufen wie um das eigene Leben – der SC läuft mit Abstand am meisten in der Liga. Aber phasenweise auch leidenschaftlich kombinieren.
Es war schon selbstbewusst, wie Streich nach dem niederschmetternden 2:5 gegen Bremen im daraus resultierenden Zitterspiel an diesem Mittwoch zwei Antilieblinge der eigenen Anhängerschaft (Guédé und Ignjovski) aufstellte und in Wolfsburg einen mutigen Matchplan vorgab, den das Team nach einigem Holpern immer besser erfüllte. Am Ende machte man den Plan mit Glück und Niederlechners Treffer zum 1:0-Sieg sogar rund.
Die Vorlage kam vom just eingewechselten Nils Petersen, dem Streich offenbar identitär eingepflanzt hat, dass er sein fußballerisches Maximum im Dienst des Teams, aber auch für sich selbst dann erreicht, wenn er von der Bank kommt. Petersens wahrhaftiger Glaube daran steht für den exzeptionellen Teamspirit des SC Freiburg 2017.
So rum ist es also heutzutage richtig: Hätten die Brasilianer das Freiburger Know-how und den Spirit, dann wären sie Weltmeister.
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