Jürgen Klopp stellt sich beim FC Liverpool als netter Kumpel bei einem geilen Verein vor. Da kann er jetzt wieder als Modernisierer auftrumpfen.
Versteckt sich hinter einem Liverpool-Trikot: Jürgen Klopp.
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In seinen besten Momenten erweckt Jürgen Klopp den Eindruck, als sei er ein ausnehmend unterhaltsamer Kumpel aus der Kneipe unten an der Ecke. Ein Typ, den irgendwie alle lieben, der sich aber nichts darauf einbildet.
Und am Freitagmorgen erhielt Klopp eine herrliche Vorlage, um sich auch in England in seiner Rolle des Lieblingskollegen zu profilieren. José Mourinho habe sich in seiner ersten Pressekonferenz beim FC Chelsea als „the special one“ vorgestellt, rief ein Reporter in Erinnerung, und wollte wissen, wie Klopp sich charakterisiert. „I am the normal one“, erwiderte der 48-Jährige und hatte die Herzen seiner Zuhörer erobert.
Denn Normalität ist in der entrückten Welt des Profifußballs ein kostbares Gut geworden, und Klopp trat so überzeugend auf in seiner Rolle als „normaler Mann aus dem Schwarzwald“, wie er sich bezeichnete, dass man ihn mögen musste. Auch in englischer Sprache ist er eine begnadete Rampensau, und er ist vermutlich ein Glückskind. Nachdem er den an der Insolvenz vorbeigeschrammten BVB zu Titeln und ins Champions-League-Finale geführt hatte, wurde ihm nun mit dem FC Liverpool ein neuer Fall anvertraut, der perfekt zu seinen Fähigkeiten passt.
Wie in Dortmund sind auch in Liverpool viele Menschen ihrem Klub verfallen und träumen von der Art Wunder, wie es bei Borussia Dortmund in den ersten fünf Klopp-Jahren geschah: die Verwandlung eines vom Leid geplagten Traditionsklubs, der im modernen Fußball irgendwie den Anschluss verloren hat, zu einem Verein, dessen Spielweise ein Gigant wie der FC Bayern München plagiiert. Außerdem ist Klopp ein Spezialist darin, ein Publikum mit seiner Art des Fußballs zur Ekstase zu bringen.
„Immer Vollgas“
Doch während die besten Klubs in Deutschland einen immer intellektuelleren Stil entwickelten, verlor Klopp mit seinem „Immer Vollgas“ den Anschluss. Seine Spielweise ist nicht mehr – wie noch 2012 – europaweit führend. Doch in England ist das Spiel noch etwas wilder, noch nicht so elaboriert, dort sind Pressing und Gegenpressing noch keine Selbstverständlichkeit. Es ist Jürgen Klopps Traumland.
Klopp hat sofort den Begriff full throttle, Vollgas, eingeführt, der in der Bundesliga längst verbraucht ist
Wer den Schwaben nun in Liverpool sprechen hört, fühlt sich sofort an die Jahre beim BVB erinnert, als noch alles frisch und zauberhaft war. „Das hier ist ein guter Moment, lasst uns einen Neustart wagen“, sagte er mit einer satten Portion Vorfreude und Zuversicht in der Stimme. Natürlich hat er auch sofort den Begriff „full throttle“ – Vollgas – eingeführt, der in der Bundesliga längst verbraucht ist. Daher ist der abgestürzte FC Liverpool der weltbeste Klub für Klopp, um noch einmal als Modernisierer aufzutrumpfen.
Klopps neuer Klub - FC Liverpool
Yesssss, Jürgen Klopp, sieben Jahre lang Trainer von Borussia Dortmund, darf Arbeiterstadt-Coach bleiben. Am 9. Oktober unterschrieb er seinen neuen Vertrag auf der Insel.
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Er zieht nach Liverpool, an die Mündung des Mersey. Einst war die Stadt der größte Hafen des Vereinigten Königreichs. Ihr früherer Reichtum gründete auf dem Sklavenhandel. IrInnen, SchottInnen, WaliserInnen und Menschen aus den ehemaligen Kolonien kamen nach Liverpool. Im anglikanischen England gilt sie als die katholischste Stadt. Ihre wahre Religion aber ist der Fußball. Und Klopp wird …
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… der Hohepriester in dieser Kicker-Kathedrale: das Stadion an der Anfield Road, Fassungsvermögen 44.742 ZuschauerInnen, Homebase der „Reds“, des FC Liverpool, einer der bekanntesten Fußballklubs der Welt. Gegründet wurde der FC schon 1892 und ist seit 1962 ununterbrochen in der ersten englischen Liga.
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Den Bekanntheitsgrad des Vereins toppen wohl nur noch vier andere Liverpudlians: die Pilzköpfe John, Paul, George und Ringo. Der Jürgen wird sich mit ihnen kaum im Musizieren messen müssen, aber …
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… mindestens ein paar Titel sollte er mit dem Fußballklub holen, will er es mal auf diese Fahne schaffen. BetonkommunistInnen sind in ihrer Verehrung für Lenin & Co. Softies im Vergleich zu den Fans des FC Liverpool, wenn sie ihren Lieblingstrainern huldigen. Von links nach rechts: Bill Shankly, Bob Paisley, Joe Fagan, Kenny Dalglish und Rafael Benítez.
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Geht es um Stimmung, kann die Fantribüne „The Kop“ mit Dortmunds Südtribüne locker mithalten. Die, die dort stehen, halten mit ihrer Meinung kaum hinterm Berg. Der Spruch auf dem Schal hat aber nichts genützt. Seit 2007 befindet sich der Verein in US-Besitz. Eigentümer ist die Fenway Sports Group, die auch den Baseballclub Boston Red Sox besitzt.
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„You'll Never Walk Alone“ ist wohl die weltbekannteste Fußball-Hymne und wurde erstmals in Liverpool angestimmt – eigentlich ein Lied aus dem Broadway-Musical „Carousel“. Die Fans nahmen sich die Coverversion von Gerry & the Pacemakers zum Vorbild. Die sind Liverpudlians, sie teilten sich in den 60er Jahren mit den Beatles den Manager Brian Epstein. Und Gerry singt den Evergreen noch immer gerne im Stadion.
Er geht aber jetzt alleine: der bisherige Liverpool-Coach Brendan Rodgers. Nach drei Jahren und ohne Titel wollten ihn die Clubeigentümer nicht mehr haben.
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Der letzte große Erfolg auf internationaler Bühne gelang dem FC Liverpool unter Trainer Rafael Benítez im Jahr 2005. Im Champions-League-Finale in Istanbul besiegten die Reds den AC Mailand im Elfmeterschießen – nach einer sensationellen Aufholjagd, lagen sie doch in der 45. Minute noch 0:3 zurück.
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In Istanbul war er dabei: Steven Gerrard. So lange wie er trug keiner die Kapitänsbinde des Traditionsvereins – von 2003 bis zum Sommer 2015. Jürgen Klopp wird mit ihm nichts mehr zu tun haben, denn Gerrard hat sich aufs Altenteil zu den Los Angeles Galaxy in die amerikanische Major League Soccer zurückgezogen.
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Die Blütezeit des Vereins liegt weit zurück. Unter Trainer Bob Paisley, im Amt von 1974 bis 1983, war der FC Liverpool in der Liga das, was heute Bayern in der Bundesliga ist: fast immer Erster. Sechsmal holte Paisley den Meistertitel. In seiner Geschichte gelang das dem FC Liverpool insgesamt 18-mal, zuletzt im Jahr 1990. Lieblingshassgegner Manchester United ist inzwischen vorbeigezogen.
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Den ersten Champions-League-Titel, der damals noch Europapokal der Landesmeister hieß, krallten sich die Liverpooler 1977 – gegen Borussia Mönchengladbach, den Verein, der jüngst selbst gerne Jürgen Klopp als Coach verpflichtet hätte. Das Foto zeigt, wie der Borusse Berti Vogts (l.) damals Liverpools Kevin Keegan bodycheckt. Aus der Konkurrenz der beiden Vereine ist längst eine Freundschaft entstanden.
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Nachdem Keegan zum HSV abwanderte, wurde er einer der entscheidenden Spieler der Liverpooler Erfolgsphase – der Schotte Kenny Dalglish. Dalglish stand da in guter Tradition, denn das erste Team des FC Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich ausschließlich aus Schotten zusammengesetzt. Von den Liverpool-Anhängern wurde er auf Platz 1 der Liste „100 players who shook the Kop“ gewählt.
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Und Dalglish ist bis heute einer der wenigen, die in der Liga zugleich Trainer und Spieler waren. Er stand von 1985 bis 1991 sowohl am als auch auf dem Spielfeld. Jedoch wechselte er sich von Jahr zu Jahr immer seltener selbst ein. 2011 kehrte er noch mal als Coach zurück, blieb aber nur anderthalb Saisons. Die Fans verehren ihn, aber in seiner ersten Trainerphase sank der Stern des Vereins.
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In diese Zeit fielen auch zwei Katastrophen. Die erste ereignete sich kurz vor Dalglishs Amtsantritt im Brüsseler Heysel-Stadion beim Landesmeister-Endpiel gegen Turin im Mai 1985. 39 Menschen starben nach einer von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Fans beider Clubs ausgelösten Massenpanik. Liverpool wurde danach sieben Jahre von allen internationalen Turnieren ausgeschlossen.
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Noch mehr Tote forderte eine Massenpanik im Hillsborough-Stadion von Sheffield – als Liverpool im FA-Cup 1989 gegen Nottingham Forest antrat. Tausende waren auf die Tribünen geströmt, es waren zuviele Karten verkauft worden. Die Polizei verschärfte die Situation, in dem sie die Fans, die zu entkommen versuchten, zurückzudrängte. 96 Menschen starben.
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Das dem rechten Verleger Rupert Murdoch gehörende Boulevardblatt „The Sun“ verbreitete Storys über die Gewalt der Liverpool-Fans, die sich als erfunden herausstellten. Seitdem wird die Zeitung von den Liverpudlians boykottiert. Zum 25. Jahrestag der Katastrophe entschuldigte sich die britische Regierung für die Ungerechtigkeit, die den Fans und den Hinterbliebenen der Toten damals widerfuhr.
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„The Sun“ blies damals ins selbe Horn wie die Regierung unter Maggie Thatcher. Die redete davon, Liverpool ganz aufzugeben. Die Stadt lag in den 80ern aufgrund der Deindustrialisierung am Boden, im Stadtteil Toxteth waren 1981 nach rassistischer Polizeigewalt heftige Straßenunruhen ausgebrochen und fünf Jahre lang lieferte sich ein trotzkistisch dominierter Stadtrat Gefechte mit der Eisernen Lady.
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Die Anfeindungen haben immerhin bewirkt, dass die zwei lokalen Premier-League-Klubs auf friedliche Weise miteinander konkurrieren. Es gibt innerhalb der Stadtgrenzen noch den FC Everton, die ältere Mannschaft Liverpools. Im Laufe der Jahrzehnte war sie gegenüber dem FC Liverpool ins Hintertreffen geraten. Hier beharken sich die beiden Maskottchen Mighty Red und Changy.
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Und beim Essen hört die Rivalität sowieso auf: Mitglieder beider Vereine haben keine Scheu gemeinsam das Frittierfett auf die Fantrikots tropfen zu lassen – beim Imbiss Everpool in der Nähe des Anfield Stadions.
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Und das ist nicht der einzige Grund, warum dieser Moment sehr günstig für diesen Schritt ist. Englands Fußball wird durch einen neuen TV-Vertrag ab dem kommenden Jahr mit unfassbar viel Geld überschüttet. In den nächsten Transferperioden kann Klopp als intimer Kenner der Bundesliga ein Team nach seinen Wünschen zusammenkaufen.
„The Kop“, die Tribüne an der Anfield Road, wird „full throttle“ geben, und neben den alten Männern der Premier Leauge wird Klopp aussehen wie ein junger Hund. Besser hätte er es kaum erwischen können.
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