Kolumne Overseas: Fünf Sterne mit Soundcheck
Warum klingt Hillary Clintons Stimme rauh? Na, gehen Sie mal in Washington aus. Dann wissen Sie warum.
Kürzlich hatte ich mal wieder Besuch aus Europa. Ein Freund aus der Schweiz und zwei weitere Bekannte waren nach Washington gekommen, um den vibrierenden Wahlkampf in der US-Hauptstadt zu erleben und das aufregende Nachtleben der Beamtenstadt zu genießen. Den Abend zu Hause zu bleiben, kam daher nicht in Frage. Mein Besuch wollte ausgeführt werden, und zwar auf unsere neue In-Piste, die U Street, wo sich früher das schwarze Washington die Musik von Duke Ellington anhörte. Meine Gäste waren begeistert und wollten bei Merlot und Steak und ein bisschen gepflegtem Jazz schnacken. Ich wollte nicht zugeben, dass ich Freitag und an Wochenenden nicht mehr ausgehe. Nirgendwo in den USA. Das bin ich meinen Ohren schuldig.
Adrienne Woltersorf ist USA-Korrespondentin der taz mit Sitz in Washington.
Aber die Gäste wollten in ein angesagtes Lokal. Also suchte ich das "Lauriol" aus, das bekannteste mexikanische Restaurant der Stadt. In dem hatten sogar die Clintons gegessen, als ich direkt um die Ecke wohnte. Damals war noch kein Wahlkampf, aber ich bin sicher, dass sich Hillarys Stimme spätestens seit diesem Abend rau anhört.
Wir bestellten unsere Getränke. Die mündlich vorgetragenen Gerichte des Tages verstand ich kaum, da die Stimme der Kellnerin im Getöse unterging. Das Essen kam. Um uns herum kieksten amerikanische Frauenrunden und Think-Tank-Praktikanten-Stammtische. Röhrende Männerstimmen erläuterten die neuesten Baseball-News. Wir mussten uns immer mehr über die Tischmitte beugen, um den anderen verstehen zu können. Was unter anderem zu Ärmelenden in Bohnensauce führte.
Als wir genug gekleckert hatten, gingen wir endlich zum gemütlichen Teil des Abends über. Es sollte in die U Street gehen, zu loungigem Jazz oder schwummerigem Blues. Ich steuerte eine Bar an, die mir vom letzten Besuch, es war ein Montagabend gewesen, als ganz passend in Erinnerung geblieben war. Wir bestellten unsere Drinks. Doch kaum brachte der Kellner die Getränke, hatte ein bis dahin von uns unentdeckter DJ seine Arbeit aufgenommen. Aus den Lautsprechern dröhnte plötzlich der neue lateinamerikanische Megahit "Matador", gefolgt von anderen zackigen Rhythmen, in steigender Lautstärke. Wir versuchten noch immer, uns gegenseitig zu erzählen, was das Leben seit dem letzten Wiedersehen gebracht hatte. Viel mehr als die Mundbewegungen meiner Gäste bekam ich nicht mit. Wir wechselten noch einmal die Lokalität. Es blieb bei der Pantomime.
Zwei Jahre lang, seit meinen ersten Ausgehversuchen in den USA, dachte ich, dass ich eben alt werde und meine Kneipenkompetenz nachlässt. Jeden Freitag litt ich ein bisschen. Während tausende laut schnatternde Menschen in Washingtons dürftiger Ausgehszene Schlange standen, musste ich mir eingestehen, dass ich lieber zu Hause bleibe.
Wie sich vor zwei Wochen zu meiner immensen Erleichterung herausstellte, bin ich gar nicht allein. Nein, wir sind viele. Und das hat jetzt Konsequenzen. Auf dem Titel des Wochenendmagazins der Lokalzeitung prangte der stadtbekannte Restaurantkritiker mit Hörschutzkopfhörern. Auf nahezu zehn (!) Seiten dokumentierte er seine monatelange Recherche in der lärmigen Gastroszene sowie die Befindlichkeiten seiner Testpersonen in allen Altersgruppen. Ich fühle mich seitdem wieder szenetauglich, denn auch die 26-jährige Testerin fand es fast überall zu laut.
Der Kritiker hat sich einen Dezibelmesser gekauft und bietet jetzt zu jeder Gastrokritik auch den Soundcheck. Er gibt zu, es nicht erfunden zu haben. In San Francisco gehört der Lautstärkegrad offenbar schon länger zur Gastrokolumne. Unter uns Freitags-zu-Hause-Gebliebenen herrscht neue Betriebsamkeit: Wir suchen nicht die Sterne für den Auflauf, sondern die Skala für den Pegel.
Und siehe da, neuerdings kleben in Washingtons In-Restaurants Eierkartons unter den Tischen, hängen Bilder an den Wänden - und wir verstehen auf einmal Dinge, von denen wir gar nicht wussten, dass es sie gibt. Mein Besuch will nächstes Jahr wiederkommen. Dann versuchen wir es noch mal mit unserem Gespräch.
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