piwik no script img

Kolumne OverseasLauern auf das S-Wort

Halb Amerika ist davon überzeugt, dass in Europa der Sozialismus regiert. Und dank Obama auch bald bei ihnen.

I ch komme neuerdings aus dem Sozialismus und stehe für alles, was Obama falsch machen wird. Die aufgeriebenen Republikaner, denen nichts Besseres mehr einfällt, rufen bei allem, was die neue Obama-Regierung ankündigt, "Sozialismus - wie in Europa" und malen krachende Untergangsszenarien der USA an die Bretter vor ihrem Kopf. Als im Wahlkampf John McCain, Obamas Gegner, im Oktober plötzlich anfing, vor dem "Sozialisten Obama" zu warnen, haben wir in der europäischen Diaspora Washingtons noch entspannt gelacht. Haha, so eine alberne Wahlkampfstrategie.

Bild: taz

Adrienne Woltersdorf ist USA-Korrespondentin der taz.

Heute, Monate und zahllose republikanische Apokalypsen später, ist halb Amerika davon überzeugt, dass in Europa der Sozialismus regiert und dort deshalb die Gurken gerade, die Unternehmer arm und die Zähne schlecht sind. So kam ich neulich in der U-Bahn mit einem Unternehmer in Sachen Büromöbel ins Gespräch, einem Demokraten, wie er sich gleich vorstellte. Es dauerte nicht lange, bis er mir mitleidig anvertraute, dass das mit Obama und dessen Sozialismus aber nicht gutgehen kann. Konjunkturpaket, Staatsverschuldung, Bankenverstaatlichung - "Ihr Europäer wollt, dass der Staat euch alles vorschreibt, aber wir Amerikaner sind nun mal anders, wir wollen Freiheit." Der Mann fuhr fort, er habe einen Nierenschaden und nun befürchte er, dass Obama und dessen geplante Gesundheitsreform ihn noch umbringen werden. "Bei euch in Europa muss man doch jahrelang auf eine Operation warten, weil sich der Staat da einmischt", wusste er. Wie sich einige U-Bahn-Stationen später herausstellt, hat der Demokrat, weil seine Geschäfte schlechtgehen, gerade gar keine Krankenversicherung und kann sich momentan auch seine Medikamente nicht leisten. Als ich ihn frage, ob er nicht eher Angst vor dem Nierenversagen des Kapitalismus habe, antwortet er hektisch, dass er jetzt aussteigen muss. "Entschuldigung, dass ich zugehört habe, aber ich wollte Sie etwas fragen", sagt darauf ein anderer Fahrgast, der sich als Mitarbeiter irgend eines Welt-Institutes vorstellt. "Sind die Theorien von Marx und Engels nicht vielleicht in einigen Punkten doch richtig?" Diesmal muss ich aussteigen, sage aber noch, um als frisch gekürte Sozialistin nicht auch noch muffig zu erscheinen, dass wir uns das im kapitalistischen Europa auch gerade fragen.

Das ist jedenfalls die neue Sorte von Smalltalk, die hier in Washington jetzt bei Starbucks und in solchen staatlichen Anstalten wie der U-Bahn stattfindet. Die U-Bahn ächzt jetzt noch stärker vor sich hin als sonst. Denn die Hauptstädter haben den öffentlichen Nahverkehr entdeckt. Die Wirtschaftskrise macht es möglich, denn es ist auch den US-Amerikanern nicht entgangen, dass Bus- und U-Bahn-Fahren billiger ist, als mit dem bulligen Geländewagen herumzufahren. Das heißt noch mehr Rolltreppenausfälle, Fahrstuhlpannen und Stop-and-go-Verkehr im Tunnel als üblich. Und weil nun in der Metro vor lauter Überfüllung öfter auch alles gänzlich ausfällt, schließen sie wiederum daraus, dass Sozialismus "wie in Europa" nicht funktionieren kann

Hallo, darf ich mal klarstellen, dass kein Land in Europa zurzeit sozialistisch ist, entgegne ich dann. Doch meist sind sie dann schon bei anderen Themen - oder ausgestiegen. Geistig. Denn es ist ja nicht wirklich interessant, was in Europa so vor sich geht. Schlimmer noch, selbst bei den "Guten" im Obama-Lager sind wir aus der alten Welt oft genug ein Beispiel fürs Scheitern. "Ach, ihr in Europa", sagt mir neulich ein Obama-Anhänger, mit dem ich auf einer Konferenz zum Klimawandel am Büfett ins Gespräch komme. "Euer Emissionshandel war ja von Anfang an eine Fehlkonstruktion, so sollten wir es auf keinen Fall machen." Na, wir haben immerhin schon einen, will ich noch sagen, doch er ist schon beim Dessert. Dort höre ich einen anderen sagen: "Die Europäer setzen ja nur aufs Regulieren, die sehen nicht, dass man zum effektiven Handeln auch technische Innovationen braucht, die wollen eben lieber verbieten." Ich lauere auf das S-Wort, doch die Klingel ruft uns in den Sitzungssaal zurück. Gute Idee, denke ich noch, ich würde jetzt gerne das Blödsinn-Reden verbieten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!