Kolumne Olympia: Ein Deutschtürke in Whistler?
Ein erster deutscher Spitzen-Biathlet mit türkischen Wurzeln bei Olympia? Ein Integrationswunder? Gündogan soll er heißen. Und ich kenne ihn nicht, tue aber lieber wissend.
D er geht noch in die Schule. In die zwölfte Klasse. Wahnsinn ist das, oder? Ein ganz Junger. Der kann noch mal groß rauskommen. Und ein Depp ist er auch nicht. Der geht aufs Gymnasium und hat Leistungskurs Mathe. Es ist eines dieser Gespräche, in denen ich immer wieder nicke, versuche wissend dreinzublicken, manchmal das Wort Wahnsinn einstreue und eigentlich überhaupt keine Ahnung habe, wovon mein Gegenüber gerade spricht.
Aus Gelsenkirchen soll der sein? Ein Deutschtürke? Ich fange an, mich zu wundern. Endlich fällt der Name. Ilkay Gündogan. Der Gündogan, genau, sage ich. Gündogan? Frage ich mich. Nie gehört. Was macht der? Sitzt der im Viererbob von Andre Lange? Ist das der erste deutsche Spitzen-Biathlet mit türkischen Wurzeln? Wieso ist der so begeistert von diesem Wunderknaben?
Also für die Türkei startet er nicht. Das ist schnell recherchiert auf der offiziellen Website der Spiele. Fünf Athleten hat die Türkei für Vancouver gemeldet. Eine Eiskunstläuferin, zwei alpine und zwei nordische Skisportler. Gündogan heißt keiner von ihnen. Es gibt überhaupt keinen Gündogan in Vancouver. Der wollte mich doch verarschen. Ein Deutschtürke in British Columbia, am Ende auch noch Sportsoldat, ein Integrationswunder, einer, der, seit er das Skigymnasium besucht, die deutsche Nationalhymne in allen drei Strophen rückwärts singen kann, weil er stolzer auf seine Heimat sein will als die Blutsdeutschen. Das hätte ich mitbekommen. Gündogan? So ein Unsinn.
Andreas Rüttenauer ist Sport-Redakteur der taz.
Hertha gestern gesehen? Ach ja, Hertha. Hertha? Soll ich jetzt wieder so tun, als wüsste ich Bescheid? Muss ich wohl - ich bin Sportredakteur. Ich kann ja jetzt schlecht sagen, dass mich das zurzeit nicht interessiert. Ja, Wahnsinn, sage ich. Die schaffen das noch, wirst schon sehen, sagt mein Gegenüber. Hertha hat gewonnen, schließe ich. So einfach ist das manchmal. Schon weiß ich Bescheid. Wenn jetzt allerdings einer kommt und mich fragt, ob ich gestern Snooker angeschaut habe, dann würde ich passen. Das kann mich aber heute keiner fragen, weil der Snooker-Sender Eurosport zurzeit nichts anderes sendet als Bilder von den Spielen in Vancouver.
Und der Cacau? Van Gaal? Ja und der Amerell? Die Drecksau, hat ein Nachbar über den gefallenen DFB-Oberschiedsrichter gesagt. So ein typischer Altersschwuler, meinte ein anderer. Ob da was war, hat mich wieder ein anderer gefragt, und wenn ja, was? Was für ein Klemmi, denke ich mir, gehe heim, schalte den Fernseher ein und bin einfach froh, dass ich mein Olympia habe. Das hat schlimm begonnen mit dem Tod eines georgischen Rodlers. Seitdem aber laufen die Spiele wie geschmiert. Was ist eigentlich das Schlimmste, was seit Beginn der Wettkämpfe passiert ist, frage ich mich. Dass die Deutschen nicht alle Rodel-Medaillen gewonnen haben? Dass Anni Friesinger-Postma nicht mehr mithalten kann? Dass die deutschen Biathlon-Männer am Schießstand versagt haben? Heitere Spiele bekomme ich geliefert von ARD und ZDF und von Eurosport sowieso. Was brauche ich da noch Fußball?
Fünf Leute haben mich an diesem Tag noch auf Ilkay Gündogan angesprochen. Ich weiß jetzt, dass er mit seinem Tor dafür gesorgt hat, dass die Bayern gegen Nürnberg nicht schon wieder gewonnen haben. Wahnsinn!
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