Kolumne Nebensachen aus Brüssel: Azad, der kleine Schuhwerfer
Leben im Multikulti-Milieu von Brüssel: die Vermieter sind Aramäer, die Mieter Kurden und wir ihre Nachbarn.
D er Junge von nebenan ist fünfzehn Monate alt und läuft schon ziemlich sicher. Er liebt es, seiner Mama auf der Dachterrasse beim Wäscheaufhängen zuzusehen oder mit dem Bobbycar auf den Steinfliesen herumzudüsen. Am liebsten aber stopft er abgekaute Melonenschalen, Wäscheklammern oder Plastiksandalen zwischen den Gitterstäben durch und freut sich, wenn sie zehn Meter tiefer auf unserem Glasdach landen.
Auch seine sechsjährige Schwester liebt dieses Spiel. Vergangenen September schmiss sie ein Stützrad samt Befestigungslasche. Es landete mit der Metallspitze zuerst und bohrte ein Loch ins Glasdach. Schaden: 1.500 Euro. Seither waren wir unzählige Male in diplomatischer Mission bei den Nachbarn zu Besuch. Wir erklärten ihnen, dass ein feinmaschiges Gitter aus dem Baumarkt das Problem ganz leicht aus der Welt schaffen könnte. Wir brachten selbst provisorisch eine Plastikplane an und baten die jungen Eltern, sie besser zu befestigen. Wir setzten Fristen und wir drohten.
Jeder dieser Besuche endete mit dem lächelnd gegebenen Versprechen, am kommenden Wochenende, ganz bestimmt, den Baumarkt zu besuchen. Dann kam der Winter, und die Dachterrasse war vergessen. Als mit der schönen Jahreszeit das Müllproblem auf unserem Grundstück sich wieder verschärfte, schalteten wir die Vermieter ein, die nebenan im Erdgeschoss wohnen. Sie sind Aramäer, sprechen nur wenig Französisch und kaum Türkisch. Die Mieter sind Kurden, sprechen noch weniger Französisch und ungern Türkisch. Das macht die Verständigung nicht einfacher.
Daniela Weingärtner ist EU-Korrespondentin der taz.
Anfang Juli stöhnte Brüssel unter einer Hitzewelle. Die kurdische Familie lebte nun praktisch nur noch auf der Dachterrasse. Bei der Rückkehr von einer Reise konnten wir auf unserem Glasdach eine Schuhsammlung in allen Größen bewundern. Die Nachbarn waren ausgegangen, und wir trafen einen jungen Verwandten als Babysitter an. Den ließen wir die Schuhe einsammeln, was ihm ziemlich peinlich war. Am nächsten Tag brachte der Vermieter ein Gitter an. Spät abends traf ich die junge Frau auf der Straße. Sie wirkte erleichtert und sprach mich an. Vor drei Jahren sei sie mit ihrem Mann aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Diyarbakir gekommen. Als Kind habe sie oft erleben müssen, wie die Polizei ihren Vater schlug. Dann streckte sie mir stolz ihren Sohn, den Schuhwerfer, entgegen. Ob ich denn wisse, wie der Kleine heißt? "Wir haben ihn Azad getauft, das heißt auf Kurdisch: frei."
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