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Kolumne Minority ReportDas schönste Wort der Welt

Kurz vor dem Verfassungsreferendum in der Türkei schreit die halbe Welt „hayır“ (nein). Wie lautete die Frage nochmal?

taz-Kolleg*innen machen Yoga auf türkisch Foto: taz

G äbe es einen Schönheitswettbewerb für Wörter, würde „Nein“ (Nö, No, Niet, Hayır) wahrscheinlich nicht sehr weit kommen. Schließlich tendieren Schönheitswettbewerbe dazu, glänzende, wohlproportionierte (willige) Oberflächen auszuzeichnen.

Die Schönheit des Neinsagens offenbart sich aber erst beim zweiten Blick (Gehirn anschalten, hinterfragen). Für den Catwalk ist das eindeutig zu spät (Next, please!). 15 Jahre sollten allerdings reichen, um zu einem anderen Schluss zu kommen (Alles hängt inzwischen. Lasst uns über Inhalte reden!).

15 Jahre hatte auch die türkische Bevölkerung und der Rest der Welt Zeit, um sich anzuschauen, was die AKP-Regierung so für Ziele verfolgt (Autokratisierung, Islamisierung). Was Staatschef Erdoğan am Herzen liegt (Geld, Cash, Kohle) und womit er nicht so richtig was anfangen kann (Menschenrechte, Gleichberechtigung, Satire).

Die türkische Regierungspartei ist inzwischen doppelt so lange an der Macht wie „Der Denver-Clan“ frische Episoden drehte (2002-2017 vs. 1981-1989). Wir kennen ihre Höhen und Tiefen (Wahlkampfauftritte organisieren und Wahlkampfauftritte organisieren). Wir wissen um ihre Verdienste (Aufhebung des Kopftuchverbots) und zahlreichen Errungenschaften (Aufhebung des Kopftuchverbots, Aufhebung des Kopftuchverbots).

Es gibt drei verschiedene Stimmmöglichkeiten: evet (ja), hayır (nein) und geçersiz (ungültig)

Und es ist nicht so, dass sich der AKP keine Feinde (Frauen, Kurden, holländische Kühe) und Hürden (Gezi-Proteste, Putschversuch, Journalismus) in den Weg stellten. Aber der Partei für Gerechtigkeit und Aufbruch (dafür steht die Abkürzung AKP) dienten die Hürden nur, um ihr Talent für kreative Lösungen (Verhaftungen, Entlassungen, Krieg) unter Beweis zu stellen. Und sich damit immer weiter in die Herzen großer Teile der Bevölkerung (Rechtsextreme, Islamisten) einzunisten.

Was das alles mit dem Neinsagen zu tun hat? Am 16. April steht ein Referendum (Volksentscheid) über eine neue Verfassung (alle Macht wandert vom Parlament zum Staatspräsidenten) an. Es gibt drei verschiedene Stimmmöglichkeiten: evet (ja), hayır (nein) und geçersiz (ungültig).

Kritische Stimmen sagen, es stehe derzeit besser um die Mehrheit für eine der letzten beiden Optionen. Aus Regierungskreisen heißt es wiederum, man wolle noch ein zusätzliches Referendum zum EU-Beitritt abhalten (genau, das türkische Volk darf bestimmen, ob die Türkei der EU beitritt. Direkte Demokratie at its best!). Das Datum wurde nicht verraten. Ziemlich tricky.

Letztlich ist nicht auszuschließen, dass auch ganz oben angekommen ist, dass nach 15 Jahren die Schönheit des Neinsagens die Mehrheit der türkischen Wähler*innen erreicht hat. Obwohl schon versucht wurde, das Wort hayır in all seinen Bedeutungen (es heißt auch „Segen“) aus dem Sprachgebrauch zu verbannen (man wünscht sich inzwischen nicht mehr einen „HAYIRlı“ Freitag, sondern sinnverwandt einen „mübarek“ Freitag). Wieso also nicht vom Hayır-Wahn profitieren?

Also, falls Sie stimmberechtigt sind: Bitte schauen Sie am 16. April genauer hin, wofür sie mit evet, hayır oder geçersiz stimmen (Optionen: a) Wollen Sie in einer Autokratie leben? b) Wollen Sie der EU beitreten?).

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Fatma Aydemir
Redakteurin
ehem. Redakteurin im Ressort taz2/Medien. Autorin der Romane "Ellbogen" (Hanser, 2017) und "Dschinns" (Hanser, 2022). Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "Delfi" und des Essaybands "Eure Heimat ist unser Albtraum" (Ullstein, 2019).
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3 Kommentare

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  • Es gab einen Vorwurf von Herrn Erdogan: Nazimethoden.

     

    In diesem Artikel von Frau Fatma Aydemir wurde schon sehr gut thematisiert, wofür Herr Erdogan und die Partei AKP stehen, was sie wollen und was sie tun.

     

    Nun kommen wir zurück zu Nazimethoden. Adolf Hitler hatte eine Methode. Er hat die ganze Macht im Land an sich allein gerissen. Dann radikalisierte er sich weiter und hatte wohl die ganze Welt im Visier...

     

    Am Anfang war Herr Hitler nicht so radikal. Hat etwa die Macht dazu beigetragen, dass die Folgen katastrophal wurden?

     

    Eher ja.

     

    Insbesondere deswegen haben wir in Deutschland die Gewaltenteilung.

     

    Menschen, die jetzt gegen totale Macht von Herrn Erdogan oder dafür stimmen, sollten das genau überlegen! Die Geschichte liefert viele Beispiele.

     

    Herr Erdogan hat das selber angesprochen. Nazimethoden. Eine dieser Methoden war die Macht bei einem Menschen also bei Adolf Hitler; danach konnte ihn zumindest in Deutschland keiner mehr aufhalten.

     

    Jetzt kann man noch präventiv etwas Schlimmes nicht geschehen zu lassen, was passieren könnte. Eine Korrektur, wäre kaum möglich. Prävention und Früherkennung ist jeweils ein Zauberwort nicht nur in der Medizin, auch in der Politik.

  • Es steht ja leider zu befürchten, daß es letzten Endes völlig egal ist, wofür denn das Volk stimmt. Die Abstimmung geht ohnehin so aus, wie es der Kalif gerne hätte. Oder gibt es in der Türkei etwa "unabhängige Wahlbeobachter"?

  • Erdogan arbeitet einfach systematisch daran, die Türken mit dem Bauch anstatt mit dem Kopf denken zu lassen.

     

    Denn ansonsten könnte auch den Erdogan-Fans bewusst werden, dass die Türkei vielleicht irgendwann einen wirklich sadistischen Diktator bekommt und der dann garantiert nicht noch einmal ein Referendum abhalten wird, ob sie dann immer noch so einen Staat wollen.

     

    Erdogan macht also daraus eine Abstimmung für ihn und gegen die böse Welt. Leider funktioniert so etwas fast immer erst einmal. Und dann ist es zu spät.