Kolumne Marx 2.0: Nach der Kontinentaldrift
Was unterscheidet uns von den Indern? Auf jeden Fall schon die Einstellung zur Religion. Im Fernsehen wie im wahren Leben.
V on Indien aus einen deutschen Kommentar zu schreiben ist schwer. Ausnahmsweise soll es geschehen. Denn allein der Blick auf taz.online genügt, von hier aus, um eine wichtige Erkenntnis zu haben: Die Globalisierung ist eine Lüge. Die Welt wächst nicht zusammen, sondern trennt sich immer mehr. Zwischen uns und den immer so gehypten Schwellenländern klafft inzwischen ein kultureller Graben, der nicht mehr zu schließen ist. Da können Steinmeier und Westerwelle noch so sehr von der kleiner werdenden Welt faseln, von der gemeinsamen Umwelt, den gemeinsamen Aufgaben - vor Ort sieht die Sache anders aus.
Von den heutigen 20 Topmeldungen würde in der Achtmillionenmetropole Bangalore keine inhaltlich verstanden werden. Umgekehrt ist uns die totale Fixierung aufs Religiöse nicht einmal als schlechter Scherz vermittelbar. Im Fernsehen laufen zwölf rein religiöse Programme, auch christliche. Und selbst die sind einfach nur gruselig. Wahnsinnig schlechte weiße Gruppen spielen Jesus-Rock, verdrehen dabei die Augen, simulieren Extase. Im Publikum drehen alle in höchster Erregung durch, skandieren religiösen Phrasen, halten sich an den Händen und wälzen sich auf dem Boden. 24 Stunden am Tag geht das so: immer die Dauererregung, nie eine Pause. Die Menschen bei den Christensendern sind diese unfassbar fetten, gestörten, alten Losertypen, die nirgendwo mehr eine Chance haben und sich jetzt dieser beknackten Droge hingeben.
Die Hindu-Sender sind natürlich weit zahlreicher. Unbegreiflich auch sie: Man sieht den Indern zu, wie sie Blumen um den Jeff-Koons-Tinnef legen, blauweiße Porzellanelefanten und jede Menge Puppen aus dem Kleinmädchenzimmer. Schließlich die Moslems: Immer die Kaaba, das Rumrennen, Blöken, Labern, die ganze unsympathische Litanei von früh bis spät. Simultan dazu jault schon wieder der Muezzin ins Fenster.
So weit, so schlecht. Doch es ist kein Medienphänomen - die Menschen leben das auch. Selbst gebildete Studenten kommen im Gespräch immer wieder auf den religiösen Punkt zurück: Bist du Muslim, Christ, oder Hindu? Was heißt das für dich? Ist es ein Problem für dich, wenn dein Gesprächspartner kein Christ ist? Und so weiter. Es ist ein vollkommen entintellektualisiertes Bewusstsein entstanden. Und das bei den lieben Indern!
Ich sage das als einer, der einmal die Titanic auf dem WG-Klo rumliegen hatte und gegen die deutschen Spießer gehetzt hat. Der dachte, unter dem Pflaster läge der Strand. Der nicht sah, dass wir im Paradies leben, immer noch, und die anderen in der geistigen Hölle.
Friedrich Rahn, der stellvertretende Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Bangalore, hält die aggressive Missionierung der Moslems für beängstigend erfolgreich. Von 9 auf 13 Prozent sei ihr Anteil in nur fünf Jahren gestiegen. Aber die Missionierung der Christen ist noch aggressiver. Was muss bloß passiert sein, dass obszöne schwabbelige Altrocker und wunderliche alte Jungfern, die sich auf durchschaubare Weise in den künstlichen Wahnsinn hineinsteigern, ein attraktives Lebensmodell für Millionen werden? Oh Lord, da muss eine echte Kontinentaldrift stattgefunden haben! Denn keiner kann mir erzählen, dass das bei uns möglich wäre.
Manchmal werden spätnachts noch alte Filme gezeigt, aus den 70ern oder noch früher. Die jungen Inder dort haben lange Haare, rauchen Joints, diskutieren viel und hören britische Popmusik - genau wie überall auf der damaligen Welt. Denn damals gab es die Globalisierung, heute nicht.
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