Kolumne Männer: Der Marathon-Mann
Frauen mögen Leid besser erdulden können. Aber eine Show daraus machen Männer - wie Petrus, Andrew Lloyd Webber und ich.
E s ist jedes Mal derselbe Albtraum. Gerade noch laufe ich, die Lungen voller leckerem Sauerstoff, frohgemut durch die sonnigen Straßen Berlins. Und plötzlich, von einem Moment auf den anderen, stecke ich in einem anderen Körper. Ich blicke an mir herab, suche nach den Bleigewichten an meinen schmerzenden Füßen, finde aber nur eine Startnummer an meiner Brust, und mit jedem Atemzug entweicht meinem Körper mehr Leben. Ich überlege, wer mir das angetan hat, und komme zum Schluss, das müsse wohl mal wieder ich selbst gewesen sein. Dieses sinnlose, selbst auferlegte Martyrium erleide ich bei jedem Marathonlauf, irgendwo zwischen Kilometer 35 und 40. Ist es nicht wunderbar?
Vor einer Woche war es Zeit für eine Neuauflage meiner ganz persönlichen Passionsgeschichte. Wie immer waren weit mehr Männer als Frauen am Start. Das habe ich nie verstanden. Wer einen Marathon absolviert, der will sich vor der Aufgabe ängstigen, in Euphorie verfallen, leiden, der Verzweiflung nahe kommen, sich überwinden und am Ende selig und erschöpft jubeln. Wie bei "Dirty Dancing".
Was also unterscheidet Marathonläufe von einem Tanzfilm, in dem ein Backfisch für eine Vortänzerin einspringt, die sich einer Abtreibung unterzieht? Ganz einfach: der Ehrgeiz. Bei "Dirty Dancing" stolpert die Hauptdarstellerin Baby - dieser Name! - in ihre Initiation, bei der sie vom Mädchen zur Frau reift. Marathonläufer haben sich ihre Prüfung selbst auferlegt. Die wollen das so. Und aus irgendeinem Grunde scheint dies mehr Männer anzuziehen als Frauen.
Deshalb also rannte ich schwitzend und in die Sonne zwinkernd durch Berlin. Am Straßenrand riefen wildfremde Leute: "Das machst du super!" oder "Ihr seht klasse aus!" Vielleicht war es für alle Beteiligten besser, dass ich meine Atemluft zum Geradeauslaufen verwendete. Ansonsten hätte ich nämlich zurückgerufen: "Das weiß ich doch alles! Deshalb mache ich diesen Quatsch ja!"
Angeblich haben Frauen eine größere Schmerztoleranz. Weil sie mal Kinder gebären, haben sie eine Begabung zum Erdulden körperlichen Leids entwickelt. Das mag sein. Aber eine Show aus diesen Schmerzen zu machen, das haben Männer perfektioniert. Was hat Petrus nicht gebastelt aus dem Streit eines Wanderpredigers mit kommunalen Beamten wegen ein paar Ordnungswidrigkeiten? Andrew Lloyd Webber aus der Geschichte einer schlecht blondierten Vorzeigegattin eines südamerikanischen Nazifreunds? Oder ich in dieser Kolumne aus einer überlang geratenen Joggingstrecke? So gesehen, bin ich eine Mischung aus Jesus und Evita.
Anders als Jesus wurde ich in meiner Not nicht im Stich gelassen. Eine Freundin stieg bei Kilometer neun ins Rennen ein und lief bis kurz vor der Zielgeraden neben mir her. Ein 31 Kilometer langer Lauf, einfach so als Training für ihren eigenen Marathon: Was für eine Heldengeschichte hätte ein Mann daraus gemacht! Die Gute gab sich ja alle Mühe. Als aus ihren Kopfhörern der musikalische Testosteron-Schub "Eye of the tiger" wummerte, boxte sie zögerlich in die Luft. Gott, war das süß. Richtig unangenehm war mir nur, als aus meinem iPod zu meiner Überraschung "I wanna dance with somebody" von Whitney Houston quoll. Später zur Rede gestellt, antwortete der für meinen Lauf-Soundtrack verantwortliche Freund verständnislos, "der Song ist doch geil produziert". Was hätte Petrus da geantwortet?
Wie lange ich für die 42,195 Kilometer gebraucht habe, verrate ich hier natürlich nicht. Ich bin ja kein Angeber. Nur so viel: I've had the time of my life.
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