Kolumne Macht: Die Faustregel
Fukushima und Toulouse, Libyen und Syrien. Und wie hieß eigentlich dieses Kreuzfahrtschiff? Welche Nachrichten durchkommen – und welche nicht mehr.
F ukushima ist als Geschichte durch, sorry. Ist natürlich schrecklich, dass die Lage im Reaktor 2 doch schlimmer ist als gedacht, aber das Thema interessiert einfach nicht mehr. Nun ja. Wenn der Redakteur meint.
Wie hieß eigentlich dieses Kreuzfahrtschiff, das Anfang des Jahres vor einer italienischen Insel havarierte? So ähnlich wie ein griechischer Schlagersänger. Und was hat sich in Libyen getan, seit Gaddafi tot ist? Keine Ahnung. Wir schauen jetzt nach Syrien. Ist wichtiger.
Damit das Publikum auch merkt, wofür es sich gerade interessiert, wird es ihm mitgeteilt. Formulierungen wie „ganz Deutschland diskutiert“ oder „ganz Deutschland fragt sich“ gehören zum Standardrepertoire von Moderatoren. Wenn sie doch nur einmal, ein einziges Mal, sagen würden: „Halb Deutschland fragt sich“ oder: „Sieben Prozent der Deutschen diskutieren“. Das wäre so schön. Aber nein, das ganze Deutschland muss es sein. Immer.
ist politische Korrespondentin der taz. Alle zwei Wochen erscheint ihre Kolumne „Macht“ im Wochenendmagazin sonntaz, dem Wochenendmagazin der taz. An jedem gutsortierten Kiosk, im eKiosk oder im Briefkasten via Wochenendabo.
Außerirdische, die ihre Informationen ausschließlich über Nachrichtensendungen erhielten, müssten den Eindruck gewinnen, Hyperventilation sei der Normalzustand der Republik. Dabei hyperventilieren nur Redaktionen. Die allerdings chronisch. Der 11. September – der ein ganz, ganz toller Quotenbringer war – ist überall und findet täglich statt. Das jedenfalls ist die Zielvorgabe.
Die Morde in Toulouse gehören zu den kältesten und brutalsten Verbrechen, die man sich vorstellen kann. Selbstverständlich muss darüber berichtet werden. Aber warum über Stunden hinweg in Sondersendungen vor Ort auf den Zugriff der Polizei warten? Und wenn sich dem offenbar schwer gestörten Täter nicht der Aufkleber „Islamist“ hätte anpappen lassen – wie groß wäre sein Nachrichtenwert gewesen? Nachahmungstäter, die Wert auf ihre zehn Minuten Ruhm legen, können aus der Berichterstattung über die Ereignisse in Toulouse viel lernen.
Längst räumen nicht mehr allein kommerzielle Sender dem Unterhaltungswert von Informationssendungen höchste Priorität ein. „Wir mussten die Ankunft von Lena aus Moskau in den Nachrichten bringen“, erzählt eine Redakteurin des öffentlich-rechtlichen Hörfunks. Lena? Welche Lena? Ach so, Meyer-Landrut. Eurovision. Und wieso Moskau? Na, egal.
Faustregel: Je größer die Aufregung, desto unwichtiger die Folgen von Ereignissen. Das bewirkt eine flächendeckende Entpolitisierung der Gesellschaft. „Ich kann ja auch nicht immer als Elder Stateswoman durch die Redaktion laufen und sagen, wir sollten vielleicht noch mal über die Bedeutung und den Kontext einer Nachricht nachdenken, bevor wir sie bringen – selbst wenn sie dann erst eine Stunde später läuft“, meint die Hörfunkredakteurin. Eine Stunde später? Das wäre die Katastrophe.
Kommerzielle Gesetze wie bei Fruchtjoghurt
Besonders deprimierend: An diese Erkenntnis lassen sich nicht einmal Forderungen knüpfen. Etwaige inhaltliche Eingriffe in Nachrichtensendungen verbietet die Pressefreiheit. Gottlob, der Preis für jede Differenzierung dieses Grundrechts wäre zu hoch. Das bedeutet aber auch, dass der Vertrieb von Nachrichten inzwischen denselben kommerziellen Gesetzen folgt wie der Verkauf von Fruchtjoghurt.
Die Frage nach der Endlagerung atomarer Abfälle ist weiterhin ungelöst. Aber das Thema Kernenergie interessiert die Leute ja leider einfach nicht mehr. Also wird auch nicht darüber geredet. Fukushima ist eben durch.
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