Kolumne Landmänner: Global schwafeln, lokal handeln
Der Frühling kommt, irgendwann. Zeit, sich Gedanken zu machen über Zuversicht, Shoppen und Guantánamo
E s gibt ja diese Ungleichzeitigkeiten, auch und gerade in ländlicher Idylle. Während draußen alles in grauen Farben gefriert und vor sich hin ödet, ist im Einkaufszentrum vor den Toren der Stadt längst Frühling. Es grünen und sprießen die Frühblüher, genau zwischen Backzutaten und Spirituosen. Wer könnte da noch ohne Hoffnung sein? Gäbe es eine Abwrackprämie für Jahreszeiten, dann wäre der Winter jetzt fällig und die neue Jahreszeit längst geleast.
Martin Reichert ist Redakteur im taz-Magazin.
Mein Freund und ich haben am Wochenende mal intensiv über unsere Vorhaben für 2009 nachgedacht. Einen Guantánamo-Flüchtling aufnehmen? Nur, wenn er gut aussieht. Wobei mein Freund sagt, dass George W. doch eigentlich viel mehr Platz auf seiner Farm in Texas hat als wir. Auch wahr.
Mehr soziales Engagment im Nahumfeld, auch immer gut. Unsere Nachbarin zum Beispiel verabschiedet sich schon seit geraumer Zeit, Schritt für Schritt mit dem Rollator, in Richtung Demenz. Sie wird dabei immer liebenswürdiger und lebenslustiger, so dass es eine Freude und fast schon ein Trost ist, mit ihr zusammen zu sein. Wir wollen mit ihr und ihrem Sohn, der sie pflegt, bald einen Ausflug machen. Auch wenn das nicht zu hundert Prozent altruistisch motiviert ist: Demenz als Bewältigungsstrategie, warum nicht?
Wenn man die Nachrichtenlage beobachtet, ist gebären zur Zeit kein Thema, in dem Punkt haben wir schon mal keinen Stress mehr. Unter Druck ist man nur in Fragen der Zuversicht und des Shoppens. Man soll keine Angst vor der Krise haben und ganz viel einkaufen, damit die Wirtschaft nicht einknickt. Bekommt man denn dafür im Moment Kredite bei den Banken? Wir wollen eine Mail an ackermann@db.de schicken.
Bleibt noch die Frage: Was machen wir bloß mit Schwester Benediktine, auch bekannt als "Der heilige Vater"? Uns war ja klar, dass wir mit ihr noch viel Freude haben werden, aber jetzt wird es langsam derb. Wenigstens hat Angie mal eine Ansage gemacht.
Das sind Gelegenheiten, bei denen es meinem Freund ganz anders wird. Als gelernter DDR-Bürger Jahrgang 1963 weiß er, dass ein bislang als ehern und unveränderlich angenommenes "System" von einem Tag auf den anderen abhandenkommen kann. Ich als gelernter BRD-Bürger Jahrgang 1973 weiß das ehrlich gesagt keineswegs - weshalb mir das mit der Zuversicht und dem Shoppen viel leichter fällt.
Mein Freund macht sich indes Sorgen über eine Erkenntnis, die aus historischer Sicht nicht so ganz von der Hand zu weisen ist: Schlechte Zeiten sind besonders schlecht für Minderheiten. Und von der jüdischen Weltverschwörung ist es ja nicht so weit zur jüdisch-schwulen Weltverschwörung. Nun ja. So schnell bekommt man die Paranoia nicht aus den Knochen, sie gehört wohl zum Erbe. Und klar: "Being paranoid doesnt mean they are not after you." Aber wenn man vor die Tür geht, dann steht die Welt ja noch. O. k., die Blumen sind noch im Supermarkt, aber ansonsten ist alles noch da.
Und haben nicht alle Menschen gerade Angst, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen? Zum Teil hat man den Eindruck, als ob überall ein diskreter Tanz auf dem Vulkan stattfindet. Jetzt nicht so richtig laut und hysterisch - man köpft nicht alle Flaschen Champagner, die man noch im Keller hat, auf einmal - aber doch bestimmt, leise "Hurra, wir leben noch" nuschelnd.
Wir sind stattdessen in Rheinsberg spazieren gegangen. Friedrichs Schloss steht noch - und wie! Frisch herausgeputzt ist es. Die Sonne erbarmte sich und schien vorübergehend, der See war malerisch zugefroren und das hässliche alte FDGB-Hotel am gegenüberliegenden Ufer ist abgerissen, das nahegelegene AKW stillgelegt.
Nein, Zukunftsangst macht keine Freude. Demenz ist keine Lösung und Paranoia ist auf Dauer ungesund. Shoppen kann man nur so viel, als Geld erwirtschaftet ist, und Benediktine kann uns mal gerne haben. Und ist es nicht großartig, dass Guantánamo aufgelöst wird - at last?
Als die Sonne sich ihrem ganz privaten Untergang neigte, sind wir noch ins Einkaufszentrum gefahren. Frühblüher kaufen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe