piwik no script img

Kolumne LandmännerDer Feind in seinem Bett

Martin Reichert
Kolumne
von Martin Reichert

Mein Mann ist mal neben der Staatssicherheit aufgewacht. Heute geben die Bürger auch ohne Aufforderung alles preis.

M ein Mann war mit der Stasi im Bett. Das ist schon lange her und es war keine Absicht. Es ist nicht so, dass er "sich nicht mehr erinnern" kann. Er wusste es anfangs schlicht nicht. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte ihm einen "Gay Romeo" auf den Hals gehetzt, um Licht in das oft nur von Kerzen beschienene Dunkel der Schwulen-, Künstler- und Intellektuellenszene in Prenzlauer Berg zu bringen. Dass es sich bei dem jungen Mann, in den er sich verliebt hatte, um einen Stasimann gehandelt hatte, erfuhr er erst, als dieser seine Dienstanweisung überschritt. Der "Gay Romeo" hatte sich in das auszuhorchende Objekt verliebt.

Und schwupps hatte die Liebe der Staatsmacht ein Schnippchen geschlagen, aus war es mit Konspiration und Überwachung. Fortan erzählten beide jedem, egal ob er es wissen wollte oder nicht, dass die Firma Horch & Guck bei ihnen auf der Matte rumstünde, wie ein Staubsaugervertreter im Westen.

Das ist nun auch schon über zwanzig Jahre her, und ich überwache meinen Mann höchstens, indem ich ab und zu mal eine freundliche Drohmail an seine "Gay Romeo"-Adresse schicke, jener schwulen Web-Community, die man auch das "Schwule Einwohnermeldeamt" nennt. Doch während ehemalige Stasimitarbeiter mit Gedächtnisstörungen - die womöglich der allgemeinen "Informationsüberflutung durch die neuen Medien" geschuldet sind - weiterhin politisch aktiv sind, hat sich das mit der aufwendigen Überwachung und Ausschnüffelung der Bürger im Prinzip erledigt.

Bild: taz

Martin Reichert ist Redakteur der sonntaz.

Die geben auch ohne Aufforderung alles preis. "Ja Wahnsinn, komm mal schnell gucken", rief mein Mann aus dem Wohnzimmer. Er war mal wieder im Netz. Allerdings leuchtete die Seite nicht "Gay Romeo"-blau, stattdessen sah man ein Filmchen laufen. Ein optisch etwas verzerrt wirkender Herr saß auf einem Sofa, das er ordentlich mit einem Mond-&-Sterne- Handtuch bedeckt hatte und bearbeitete liebevoll seinen Schwellkörper "Ach Gott, schaust du Schwulen-Pornos?", fragte ich. "Von wegen, das sind Heten, die live vor der Web-Cam onanieren und sich dafür beklatschen lassen." Potzblitz, dachte ich und setzte mich vor den Rechner. Und in der Tat, er hatte Recht: auf cam4.com werden alle Forderungen von "Transparency International" zur knallharten Tatsache. Ein junger Mann mit voluminösem sekundärem Geschlechtsmerkmal aus Ohio, zappelte nervös auf seinem Stuhl und wurde in der rechten Bildleiste von zahlreichen Community-Mitgliedern, Männlein wie Weiblein, genötigt, doch endlich mal den Blick frei zu geben, indem er sich seiner Unterhose entledige. Er zierte sich ein wenig, versicherte per Message mehrmals, dass er "totally str8" sei, aber dann traute er sich. Woraufhin die rechte Bildleiste rotierte wie die Anzeige einer Slot-Maschine "Yeah" (bi-interested); "Great, Man!" (gay), "Cute Guy" (female) etc.

Als wir dann abends noch einen Spaziergang im nahen Luch machten, glühte der brandenburgische Himmel so Rot in Rot, dass man hätte meinen können, das Abendland ginge unter. Aber Potsam war weit und wir waren offline. Wir winkten einem Schwarm Kraniche, der über uns hinwegzog, und freuten uns, dass die jungen Leute von heute so offenherzig sind, dass ihre Überwachung am Ende viel zu personalintensiv wäre. Und wir freuten uns über all die jungen Menschen, die gerade weltweit und mit großer Selbstverständlichkeit Freude an ihren Geschlechtsorganen haben. Ernste Probleme gibt es ja schon genug.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Martin Reichert
Redakteur taz.am Wochenende
* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien

2 Kommentare

 / 
  • DJ
    Delphina Jorns

    Die Frage nach der Rangfolge von Geschlechtsteilen ist heute soziokulturell konotiert, nicht etwa biologisch.

    Der Autor ist offensichtlich Top. Deshalb ist das primäre Geschlechtsteil eines jungen Mannes für ihn der Anus.

    John Cage hat (mutatis mutandis) einmal das männliche Gehirn als primäres Geschlechtsorgan bezeichnet.

    Ich selbst zB bin 53. Da sind alle Geschlechtsteile sekundär.

    Soviel Aufklärung für heute mit freundlichen Grüssen aus Oberwil.

  • F
    Frage

    Verfügt der junge Mann aus Ohio nicht eher über ein voluminöses _primäres_ Geschlechtsmerkmal?