Kolumne Kulturbeutel: Gestreckt und nicht gehockt
Vom Auerbach hat jeder Sportjunkie schonmal gehört. Im Kurzfilm „Anderthalb“ will ein alter Mann ihn ein letztes Mal springen. Das ist sehr anrührend.
T om Daley furzt für British Gas. Nein, auf der Insel haben sie den 18-jährigen Wasserspringer noch nicht vergessen, der vor den Spielen von London omnipräsent war in den Medien des Königreichs und den von Frittierfett dick gewordenen Kindern des Landes andauernd als athletisches Vorbild vorgeführt wurde. Bei den Spielen sollte er Gold holen, gewann dann Bronze vom Turm und verschwand ein wenig hinter den vielen britischen Olympiasiegern.
Dass er gerade zwei Goldmedaillen bei den Juniorenweltmeisterschaften gewonnen hat, hätte wohl kaum einer wahrgenommen, wenn nicht der Energiekonzern British Gas auf die Idee gekommen wäre, als Gegenleistung für die Unterstützung des Springers seinen Schriftzug genau auf der hinteren Mitte seiner Badehose zu platzieren. Das fanden viele Briten saukomisch, auch weil sie bis dato vielleicht noch nie darüber nachgedacht haben, ob ein Athlet mit einer derartigen Körperbeherrschung wie Daley überhaupt furzt. Dank British Gas menschelt es gewaltig in der Wasserspringerszene.
Das ahnte die junge Filmregisseurin Anne Maschlanka schon lange, bevor Tom Daley das erste Mal seine Gasbadehose angezogen hat. Sie hat mit anderen Studenten der Filmschule Köln und der Fachhochschule Dortmund einen Kurzfilm gedreht, der unter und auf einem Sprungturm spielt. Es geht um einen anderthalbfachen Auerbach – gestreckt und nicht gehockt.
ist Sportredakteur der taz.
Auerbach! Das ist so ein Sportwort, das alle Sport-TV-Junkies kennen, ohne vielleicht genau zu wissen, was es ist. Mit dem Rittberger beim Eiskunstlauf ist es ähnlich – aber um den soll es hier ja nicht gehen. Auf jeden Fall ist der Auerbachsprung nicht nach einem der zahlreichen Orte in Deutschland und Österreich benannt, die den Namen Auerbach tragen (Bayern, Sachsen, Hessen, Baden-Württemberg, Oberösterreich und Steiermark). Er ist nach Wilhelm Auerbach benannt, einem Fecht- und Turnlehrer (Quelle: Sport-Brockhaus 2007), der einst vor allem für sein 1911 erschienenes Übungsbuch „Turnen im Licht- und Luftbad“ viel gelobt worden sein soll.
Aber auch um den soll es hier nicht gehen. Sondern um Paul, einen alten Mann, der es noch einmal wissen will, noch einmal auf den Turm steigt, um, so wie er es früher getan hat, von zehn Meter Höhe einen anderthalbfachen Auerbach – gestreckt und nicht gehockt – ins Wasser zu zaubern. Paul ist der Protagonist in //www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=0CCQQFjAA&url=http%3A%2F%2Fwww.arte.tv%2Fde%2Fanderthalb-von-anne-maschlanka%2F6977756%2CCmC%3D6977766.html&ei=NquJUKK6IsjNswbnjYDADQ&usg=AFQjCNGqr1NcYq2vCOim5W8-70AImHws7w:„Anderthalb“, dem Film von Maschlanka.
Vorwärts abspringen, rückwärts drehen
Der Auerbach ist ein spektakulärer Sprung, bei dem die Athleten noch vorne abspringen, aber ihre Drehungen dann rückwärts ausführen. Als Paul noch jung war, hat er den Mädchen im Schwimmbad gesagt, dass er die Sprünge nur für sie turnt. Ein fescher Athlet war er. An Karin kann er sich noch erinnern, die einmal sogar zu ihm in die Männerdusche gekommen ist, um ihn anzuhimmeln.
An Karin denkt er auch an dem Tag, als er nach Jahrzehnten wieder einmal auf den Turm klettert. Schwer schnaufen muss er beim Erklimmen des 10-Meter-Turms, und als der alte Paul oben steht, sieht er sich, als jungen Mann. Und beinahe wäre er gesprungen. Doch alles war weg. Keine Erinnerung mehr. Gerade hat er noch trainierende Nachwuchsathleten und deren Sprünge kommentiert. „Beine zusammen, du Anfänger!“ Und jetzt weiß er nicht so recht, wo er ist.
Eine junge Frau hilft ihm, vom Turm zu klettern. Ist das nicht die, die damals bei ihm in der Männerdusche war? Karin? Weg. Keine Erinnerung mehr. Und am Ende doch die Frage an die junge Frau, ob sie seinen Auerbach gesehen habe. Da ist die Erinnerung wieder da. „Anderthalb“, dessen Drehbuch Stefan Höh geschrieben hat, ist ein Film über Alzheimer.
Die Krankheit des alten Mannes verstört in der Welt der perfekten Athleten. Paul wohnt in einem hässlichen Betonklotz an einer lauten Straße, einer Gegend zum Vergessen, einer Alzheimer-Ecke. Hier fällt der kranke Mann nicht auf. In der Welt der Wasserspringer ist der Mensch ein Fremdkörper – da mag er noch so viel furzen. Siehe oben!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Getöteter General in Moskau
Der Menschheit ein Wohlgefallen?
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Bombenattentat in Moskau
Anschlag mit Sprengkraft
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf