Kolumne Konversation: Die Gretchen-Überlebensfrage
Ein leeres Lokal ist unangenehm - vor allem, wenn die Kellner halluzinieren.
Natalie Tenberg ist tazzwei-Redakteurin.
"Ich hätte es mir schlimmer ausgemalt", sagte der Kellner in dem völlig leeren Lokal zu uns, als wir die Rechnung bestellten. Die Speisekarte lag noch vor uns auf dem Tisch, den wir reserviert hatten. Überall standen Stühle, auf denen niemand saß. Kein Paar Ellbogen ruhte auf dem Tresen der Bar. Der Zapfhahn war verwaist, die Küche kalt.
Wir hatten nicht nur nach der Rechnung gefragt, sondern auch, ob es im "Gretchen" immer so leer war. Jeder Mensch, der in seinem Leben mehr als drei Restaurants besucht hat, konnte sofort erkennen: Das "Gretchen" war Schrott. So bewunderten wir die Vorstellungskraft des Kellners. Mein Mann und ich sahen uns um und fanden, schlimmer konnte es eigentlich gar nicht sein. Wir waren die letzten Gäste des Abends, an einem Samstag, um 21 Uhr. Und wir gingen, ohne etwas zu essen. Es war uns im "Gretchen" einfach zu unheimlich. "Im Januar haben die Menschen ja nie Geld in der Tasche", versuchte der Kellner, vielleicht war er auch der Besitzer, die gruselige Leere in seinem Laden zu erklären. Ein kleiner Mann, Ende zwanzig, gegeltes Haar, Ringelpulli, Lederarmband. "Das ist immer so. Der Januar ist Gift für die Kasse. Die Leute gehen einfach nicht aus."
"Ach, wirklich?", fragten wir. Ein wenig aus Höflichkeit, aber auch, weil uns die Erklärung einfach nicht einleuchtete. War dieser arme Mensch hier gefangen? Hatte er in den letzten Wochen je die Außenwelt zu Gesicht bekommen? Wir bezweifelten es. Denn in der ganzen Gegend - wir waren lange auf der Suche nach einem Parkplatz herumgekurvt - sah man Gäste in Lokalen sitzen, essen und trinken.
"Ja, doch", schob der Kellner hinterher. "Im Januar, da muss man die Versicherung für das Auto zahlen und lauter anderes Zeug. Da wird jeder Cent…" "…zweimal umgedreht", fiel mein Mann helfend ins Wort.
"Natürlich", pflichtete ich bei.
"Schade, aber wir würden dann auch lieber irgendwo hingehen, wo vielleicht…"
"…etwas mehr los ist?", fragte der Kellner.
"Ja, etwas mehr, für einen Samstagabend."
Ich verfluchte den Menschen, der uns das "Gretchen" empfohlen hatte. Es tat mir Leid, aber ich konnte nicht bleiben. Mein Mann auch nicht. Die Situation war zwischenmenschlich unbequem. Wir wollten raus aus diesem seelenlosen, schlecht eingerichteten Schuppen.
"Das kann ich gut verstehen", unterstützte der Kellner unsere Entscheidung. "Eine Limonade und ein Bier, macht vier Euro fünfzig."
"Fünf Euro, bitte."
"Danke", sagte er. Er wusste, bildete ich mir ein, genauso gut wie wir, dass sein Lokal keine Zukunft hatte. Aber sagte er es? Nein. Sagten wir es? Auch nicht. Aus Höflichkeit, aus Scham.
"Letzten Januar war es genauso", sagte er.
"Wirklich?" Ich staunte. Wie konnte es sein, dass es dieses Lokal schon seit einem Jahr gab, es auch im letzten Januar leer war und es dennoch niemand geschlossen hat?
"Ja, da war hier auch nichts los. Und wegen der Finanzkrise, dachten wir, es käme dieses Jahr noch schlimmer", erklärte der Kellner seine Logik noch einmal. Sie ging uns trotzdem nicht auf. Es wurde nur alles irgendwie noch unangenehmer. "Ist es aber nicht." Das "Gretchen"-Team, sofern es eins gab, war blind auf dem Worst-Case-Auge.
"Wann ist denn was los?" Vielleicht hatten wir ja wirklich einen schlechten Tag erwischt. Vielleicht hatten sich ja alle Freunde des "Gretchen" zum gemeinsamen Kinoabend verabredet, anstatt das angepriesene Schnitzel "Wiener Art" zu essen. Oder kommen gerne erst nach neun oder nach zehn.
"Normalerweise jeden Tag ab acht Uhr abends."
"Nur im Januar nicht?" "Ja, genau. Nur im Januar nicht. Der Januar ist…"
"…Kassengift?"
"Genau."
"Na, dann. Auf Wiedersehen."
"Auf Wiedersehen", sagten wir und gingen. Sehr schnell. Um die Ecke zum nächsten Lokal, wo wir nach kurzer Wartezeit von fünfzehn Minuten einen Tisch bekamen. Wahrscheinlich, weil Januar war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!