Kolumne Konversation: Die Ottos von nebenan
Warum der Nachbar plötzlich so unfreundlich ist? Er hat dasselbe Problem wie ich.
D as Internet hatte mich wieder lieb gewonnen. Keine verunglimpfende Werbung erschien mehr auf meinem Bildschirm. Keine E-Mails mit unlauteren Angeboten spammten mein Postfach voll. Online war die Welt für mich wieder völlig in Ordnung. Stattdessen ging es im realen Leben bergab. Ich musste meine Steuererklärung abgeben, man mahnte mich schon, und dann versaute ich es mir noch mit den Menschen, die mir am nächsten sind: meinen direkten Nachbarn. Den superkorrekten Ottos.
Dabei hatte ich nur gesagt: "Uiui, sieht nach einer Leiche aus!", und war an dem lauen Abend, die Dämmerung hatte schon eingesetzt, an Herrn Otto in Richtung Treppenhaus vorbeigelaufen. Mir sah das, was er aus dem Auto zur Müllinsel in den Innenhof schleppte, eben stark nach einer Menschenentsorgung wie in billigen Mafia-Filmen aus. Ein denkbar flacher Witz, aber Gott, ich litt wie ein Hund unter den mir bevorstehenden bürokratischen Aufgabe, da war einfach keine Kapazität für mehr da.
Ich nahm an, dass es Herrn Otto, jenseits der 70 und schon komplett in gedeckten Erdtönen gekleidet, völlig egal wäre, was ich zu sagen hätte. Ein Fehler! Herr Otto nämlich wacht penibel darüber, dass die Abfallwirtschaft in unserem Innenhof ordnungsgemäß vonstatten geht. Deshalb gilt bei ihm: Keine Witze über Müll. Keine Witze über den Zustand im Treppenhaus. Am besten gar keine Witze über gar nichts.
Natalie Tenberg ist Redakteurin im Ressort tazzwei.
Zwei Tage lang sahen wir uns nicht mehr wieder. In der Zeit kopierte ich Belege und vergoss einige heiße Tränen über das mir so unfair erscheinende Schicksal, mich mit dem Finanzamt auseinandersetzen zu müssen. Dann, am dritten, stand ich vor dem Hauseingang, als auch Herr Otto angeradelt kam. Mit Zigarette im Mundwinkel und wie immer so langsam, dass ich fürchtete, er könne gleich zur Seite kippen. Neu war der kanariengelbe Helm auf seinem Kopf. Beige war wohl ausverkauft. "Oh, schick", sagte ich und wartete gar nicht darauf, dass Herr Otto antworten würde. Er fuhr ganz langsam an mir vorbei und sagte nichts.
Mir war es egal, denn ich hatte am Abend nämlich nun wirklich Großes, die Steuer, vor. Am vierten hörte ich, wie Herr Otto sein Schlafzimmerfenster schloss, als ich auf den Balkon daneben trat, um etwas von der deprimierenden und andauernden Arbeit an der Steuererklärung zu verschnaufen. Am fünften stand ich am Fahrradständer, wollte gerade mit der Steuererklärung zur Post, als Herr Otto die Treppe herunterkam. "Guten Morgen," sagte ich. "Ah, guten Morgen", antwortete er, blieb stehen, fügte hinzu: "Das mit den Gartenabfällen, das war eine Ausnahme!", huschte weiter, und weg war er. Ich hätte keinen rechten Rat gewusst, wäre Herrn Otto nicht gleich Frau Otto hinterhergekommen.
"Mein Mann", erklärte sie, "ist überzeugt, dass Sie ihn wegen der Gartenabfälle getadelt hätten, die wir aus unserer Laube mitbringen mussten. Haben Sie das?", fragte sie streng und schaute mich von unten schräg an. So böse wie jetzt war sie weder, als wir ihre Fußmatte verdreckt hatten, noch als wir unangekündigt eine laute Party gefeiert hatten. "Nein!", entgegnete ich. "Das will ich hoffen", ermahnte sie mich. "Mein Mann ist nämlich gerade sehr empfindlich. Er muss die Steuer machen."
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