Kolumne Knapp überm Boulevard: Die homogene Gesellschaft – ein Fake
Der Populismus wird immer wieder neue Nicht-Zugehörigkeiten ausmachen. Viktor Orbán hat das bereits vorgemacht.
E uropa entwickelt sich immer mehr zu einem Europa der Flüchtlingsabwehr. Der letzte EU-Gipfel Ende Juni hat diesen Paradigmenwechsel ganz offiziell vollzogen. Da ist es schon fast egal, dass wir es mit einer eigentümlichen Diskrepanz zu tun haben: jener zwischen sinkenden Flüchtlingszahlen und steigender Panikmache. In dieser Situation zwischen realer Entschärfung und konstruierter Dringlichkeit wird eine neue Frage zentral: Eröffnen geschlossene Grenzen jenen geschützten Raum, innerhalb dessen eine liberale Gesellschaft wieder möglich wird? Dies scheint das Leitmotiv der Restliberalen zu sein.
Diese Frage zeigt an: Es ist eine Zeit der Paradoxien, der unauflösbaren Widersprüche. Dazu gehört auch das Argument, man befördere den Rechtsradikalismus, wenn man mehr „Fremde“ aufnimmt, als die Bevölkerung akzeptiert. Man kennt diese Widersprüche: Rechte Politik, um Rechte zu verhindern. Dieser alte Hut wird heute mit einer neuen paradoxen Variation getragen: Eben der Forderung, die Grenzen zu schließen, um ein offenes Europa zu garantieren. Diese beruht auf drei Irrtümern.
Der erste Irrtum: Während man über mehr oder weniger Flüchtlinge nachdenkt, übersieht man völlig, dass die Grundlage des Problems nicht quantitativ ist. Es geht nicht um die Menge der Flüchtlinge. Denn wenn es um die reine Zahl ginge, dann hätten wir heute keine „Migrationskrise“. Aber es geht nicht um die Quantität, sondern um das Umschlagen von Quantität in Qualität: Ab welchem Korn ist ein Haufen ein Haufen, fragte der Philosoph Slavoj Žižek mal. Das lässt sich nicht sagen. Ebenso wenig wie bei den Flüchtlingen. Ab wie vielen hat man einen „Haufen“, sprich ein „Zuviel“ erreicht? Die Qualität des „Zuviel“ hat kein objektives Maß. Es ist ein subjektives Gefühl.
Die Qualität des „Zuviel“
Die Frage aber ist: Kann man mit einer Re-Quantifizierung darauf antworten? Mit „humanistischem Pragmatismus“ (taz vom 7. 7. 2018)? Tatsächlich greift das ein Stück weit. Aber es greift immer weniger. Denn die Qualität des „Zuviel“ will deutlich machen: Das lässt sich nicht lösen.
Der zweite Irrtum ist die Vorstellung, Abschottung könne den hetzerischen Populismus eindämmen. Was solch eine mögliche Eindämmung anlangt, so hat Viktor Orbán schon bei seinem Eintreffen zum Brüsseler Gipfel die Marschroute eindeutig angekündigt.
„Die Menschen verlangen zwei Dinge“, so der ungarische Premier. „Das Erste ist: Keine Migranten mehr, stoppt das!“ Für den Fall aber, dass man sich in Brüssel auf einen strikten Kurs in dieser Sache einigen hätte könnte, hat er vorsorglich gleich nachgelegt: „Das Zweite ist: Bringt die zurück, die schon da sind.“ Darin weiß er sich mit seinem italienischen Kollegen Salvini ganz einer Meinung.
Es reicht nicht
Man muss sehr genau verstehen, was er, was sie uns damit sagen wollen. Es bedeutet: Es reicht nicht. Die Grenzen kontrollieren. Die Grenzen schließen. Es reicht nicht!
Warum? Weil die populistische Gesellschaft der Homogenität ein Fake ist. Weil Populismus ein Projekt der Spaltung ist. Weil er eine Einheit suggeriert, die immer wieder neue Spaltungen in der Gesellschaft eröffnet. Weil er immer wieder neue Nicht-Zugehörigkeiten ausmachen wird. Orbán hat das bereits vorgemacht. Nach den Flüchtlingen zauberte er den nächsten Sündenbock aus dem Hut: den Juden Soros.
Populismus ist keine überschießende Kritik mit rationalem Kern, der übrig bleibt, wenn man den Überschuss beseitigt. Etwa in der Flüchtlingsfrage. Populismus ist weder zu befriedigen noch zu befrieden. Das sei all jenen gesagt, die ihm entgegenkommen wollen.
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