Kolumne Immer bereit: Der Duft meiner Kindheit
Hufelandstraße, Ecke Bötzowstraße: Die Kolumnistin beobachtet aus einem Strandkorb heraus das Haus ihrer Kindheit. Und dann ...
A lle schreiben über die Hufelandstraße, den „Ku’damm des Ostens“, das Zentrum der Gentrification, das Paradebeispiel innerstädtischen Strukturwandels nach der Wende. Der Fotokünstler Harf Zimmermann dokumentiert seit 1986 den Wandel dieses Straßenzugs im Prenzlauer Berg. Wieso habe ich noch nie über die Hufelandstraße geschrieben?
Ich sitze in einem Strandkorb und blicke auf das Haus, in dem ich den größten Teil meiner Kindheit verbracht habe, Hufelandstraße 26, Ecke Bötzowstraße. Die Fassade ist jetzt lindgrün, sie haben Stuck drangeklebt, aber die Haustür ist dieselbe wie 1986, als meine Eltern und ich in die Wohnung einzogen, am 20. Februar bei 15 Grad minus und einem Meter Schnee.
„Das war alles in dem Jahr“, sagt meine Mutter. „Der Umzug, die Einschulung, Tschernobyl.“ Mein Vater rutschte aus beim Umzug und prellte sich das Steißbein. Er konnte zwei Wochen lang nicht sitzen.
Beletage, erster Stock
Ich fand die Wohnung scheußlich, am Anfang. Beletage, erster Stock. Zu groß, zu dunkel, zu hoch. Mein Kinderzimmer war ein riesiges Berliner Zimmer mit Fenster zum Hof. Unten im Haus war ein Friseur. Der Damenfrisiersalon „Modische Linie“. Dessen Lüftungsanlage befand sich genau unter meinem Kinderzimmerfenster. Den Geruch hab ich bis heute in der Nase.
Eltern mit kleinen Kindern laufen an mir in meinem Strandkorb vorbei. Sie sprechen Englisch, Italienisch, Französisch.
Anfang der 90er-Jahre zog Natalie in die Wohnung gegenüber. Natalie war Ende zwanzig, Studentin, Französin und wunderschön. Sie hatte eine kleine Tochter, Elena, ich durfte manchmal auf sie aufpassen.
Natalie brachte mir bei, wie man Augenbrauen zupft und Beinhaare epiliert. Sie kannte jeden und redete unterunterbrochen. Als ich zum ersten Mal verliebt war, gab Natalie keine Ruhe, ehe sie den Knaben gesehen hatte. Das machte sie ganz subtil. Sie steckte den Kopf ins Kinderzimmer und flötete: „Hallo, ich bin die Nachbarin“, während er verunsichert auf dem Boden vor dem Plattenspieler kauerte.
Der Hinterhof war eine Stein gewordene Tristesse. In der Fassade klafften die Einschusslöcher der Häuserkämpfe von 1945, darunter Mülltonnen, eine Teppichstange und ein mickriges, spindeldürres Bäumchen, das sich tapfer dem Licht entgegenstreckte.
Auf der anderen Seite vom Hof wohnte Ronny, der sah aus wie ein Nazi, obwohl es die in der DDR offiziell nicht gab. Ronny stellte im Sommer immer die Boxen seiner Stereoanlage ins Fenster, damit auch bestimmt alle etwas davon hatten. Die Mutter von Ronny verbrachte die Abende meist im Bötzowstübl, der Kneipe, die ihre Lüftung ebenfalls auf den Hof raus hatte. Der Duft meiner Kindheit ist ein Friseur mit Kneipenbetrieb. Wenn Ronnys Mutter nach Hause kam, stellte sie sich in den Hof und sang aus vollem Hals: „Einmal um die ganze Welt und die Taschen voller Geld“.
Wo früher die „Modische Linie“ war, ist heute ein asiatisches Restaurant, im ehemaligen Bötzowstübl ist ein Coffeeshop.
Schweinbammel an der Stange
In die Wohnung über uns war damals, gleichzeitig mit uns, Familie Reuter eingezogen, die hatten drei Kinder. Die älteste, Michele, war so alt wie ich. Zusammen spielten wir Schweinebammel an den Teppichstangen. Wir hängten uns in die Kniekehlen und schaukelten an den niedrigen Stangen hin und her. Frau Reuter arbeitete im Bäcker gegenüber – da, wo heute das Café drin ist, vor dem der Strandkorb steht, in dem ich sitze und dies schreibe.
Nach der Wende zogen Reuters in ein Haus am Stadtrand, in ihre Wohnung zogen lauter gutaussehende Studenten. Ich war 17 und fand das sehr aufregend. Meine Mutter nicht. „Oh nee!“, rief sie. „Studenten! Die ziehen bestimmt die Dielen ab.“ Sie schrieb gerade an ihrer Habilitation und war etwas geräuschempfindlich. Eine Woche später setzten die Schleifmaschinen ein.
Ich habe mich getraut, bin aus meinem Strandkorb aufgestanden und ins Haus geschlüpft, als jemand die Tür aufmachte.
(Fortsetzung folgt)
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