Kolumne Habseligkeiten: Es darf wieder getragen werden
Der Ghettoblaster: Was einst als Schrott galt, ist heute wieder modern.
G uck mal, das trägt man jetzt wieder", sagte ich zu meinem Mann, als wir am Samstagabend in Berlin-Kreuzberg unterwegs waren. An uns vorbei zog gerade leicht wippenden Schrittes ein junger Mann. Vor drei Jahren noch hätte er sich und uns den Abend wahrscheinlich damit versüßt, dass er die MP3-Player-Funktion seines Handys voll aufgedreht hätte, so dass wir mitbekommen, was er hört. Oder er hätte seinem iPod gelauscht. Oder aber das Autoradio mit Subwoofer laufen lassen, so dass es drei Wagen weiter noch wummert.
Jetzt aber, im Jahr 2010, war er mit einem laut schallenden Radiorekorder auf der Schulter unterwegs, der in etwas so aussah wie der auf dem Plattencover von Lena Meyer-Landrut. "Das könnten wir auch," antwortete mein Mann und hatte Recht.
Wir nämlich, ich weiß, dass Sie nun neidisch sein werden, haben ebenfalls so ein Gerät nur größer und dunkler: den UHER Power Port 700. Ein imposanter Ghettoblaster, der vor fünf Jahren noch als kompletter Schrott galt, jetzt aber das Label Vintage verpasst bekommen hat. Früher also nannte man so etwas Ghettoblaster, heute, so musste ich dieser Zeitung entnehmen, "Boombox".
Natalie Tenberg ist Redakteurin im Gesellschafts-Ressort der taz.
Und ja, junge Männer, die ihre Mitgliedschaft im Fitness-Studio nutzen, besitzen genug antrainierte Muskelkraft, um veraltete Unterhaltungselektronik durch die Gegend zu tragen. Nicht von ihrem Zuhause, das wahrscheinlich mit Run DMC und LL -Cool-Jay-Postern vollhängt, bis zum Recyclinghof, sondern zu diesen mir noch immer verborgenen Orten, an denen man seine Musik ungestört abspielen kann. Dort tanzen sie dann sicher irgendeine moderne Form von Breakdance mit anderen jungen Leuten.
Dass die Boombox bald reif ist für ihren zweiten Frühling, hatte ich mir schon gedacht. Lange Jahre nämlich lachten die Menschen, wenn sie zu uns in die Küche traten und den UHER Power Port auf dem Regal über dem Herd stehen sahen. Als Studentin fragten mich meine Freunde mitleidig, ob ich mir nicht wirklich endlich mal eine neue Anlage kaufen wollte. "Nein", antwortete ich stets. Erstens mache ich mir nicht viel aus Musik und Klangqualität, solange ich das Lied erkennen und mitsingen kann, reicht es mir. Zweitens konnte ich an meine Boombox prima erst an einen Discman anschließen und später einen Laptop. Außerdem war der Power Port das einzige Erbstück meiner Oma, so etwas entsorgt man doch nicht. Letztlich aber wandelte sich der Ton von verächtlich zu bewundernd.
"Irre", sagte unser Freund Robin, der während der gesamten 90er niemals seine Baseball-Mütze absetzte, als er ehrfürchtig an unseren Reglern spielte. "Da sind ja noch richtige Kassetten drin." Ich verschweige in solchen Momenten gerne, dass das Kassettendeck von kleinen Kindern zerstört wurde und wir sowieso nur Inforadio hören. Stattdessen sagte ich: "Klar, sind noch von früher."
Zwei Ecken weiter sahen wir übrigens den jungen Mann wieder. Er hatte sein Radio ausgestellt und telefonierte. Der Mensch an der anderen Leitung solle Bier mitbringen, er selbst habe die Batterien dabei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“