Kolumne Gerüchte: Nichts Schlechtes über Morphium
Früher sprachen meine Freunde auf Partys über Sex. Dann über Kinder. Nun über die Eltern. Und den Wachwechsel.
Britt und Thomas wollten mal wieder einen lustigen Tanzabend veranstalten, an Silvester. "Tanzabend" bedeutet, dass irgendwer eine CD mit Stevie-Wonder-Songs mitbringt. Und eine von Eminem, um etwas aktueller zu sein. Obwohl Eminem ja auch fast schon ein bisschen von gestern ist. Aber was heißt eigentlich "von gestern"?
Barbara Dribbusch ist Redakteurin für Sozialpolitik im Inlandsressort der taz.
"Du musst einfach ein anderes Zeitgefühl mitbringen", brüllt mir Frank ins Ohr, die Musik ist ziemlich laut, "mit Rollstuhl geht alles langsam. Aber meine Mutter fand die Tage hier ganz toll." Franks Mutter, 82 Jahre alt, lebt seit dem Schlaganfall vor einigen Monaten im Pflegeheim in Stuttgart. Und möchte noch gerne reisen. Für drei Tage kam sie über Weihnachten nach Berlin. Eine eigens engagierte Pflegerin versorgte sie morgens, für anderthalb Stunden.
"Die ganze Klokompetenz musste ich mir aber auch aneignen", erzählt Frank, "kann sie nicht mehr." Das fand ich schon immer gut an Frank. Die einen labern, die andern handeln. Frank hat meistens gehandelt. Klokompetenz! So was passt ja eigentlich eher zur Kleinkinderphase. Aber das Leben ist lang.
Aus den Boxen erklingt Stevie Wonders "Living For The City". Noch tanzt keiner. Dabei sind die meisten Gäste heute ohne Nachwuchs gekommen, weil unsere Kinder an Silvester inzwischen auf ihre eigenen Partys gehen.
"Ich muss mich auch mehr um meine Mutter kümmern", schaltet sich Chrissy dann in unser Gespräch ein, "beginnender Alzheimer. Das Problem ist nur: Sie will nicht ins Pflegeheim." Chrissy fährt demnächst schon wieder für zwei Wochen runter in die hessische Kleinstadt. Die Mutter lebt inzwischen an der Grenze zur Verwahrlosung, obwohl sie mal Studienrätin war. "Meine Mutter wird immer misstrauischer, je mehr Hilfe sie eigentlich braucht", schildert Chrissy.
Aus dem Wohnzimmer dröhnt jetzt "Aint No Sunshine, When Shes Gone" von Bill Withers. Ein wirklich schöner Hit, habe ich damals dauernd gehört, als die Sache mit G. anfing. Aber Sex und so ist heute irgendwie kein Thema. Kinder auch nicht. "Tanzt mal wieder kein Schwein", stellt Britt fest, sie ist gerade zu uns gestoßen.
"Persönlichkeitsveränderungen durch Krankheit", sagt Theresa, die schon länger zugehört hat, "das muss nicht nur zum Schlechten sein." Ihre Mutter kämpft seit fünf Jahren mit einer Krebserkrankung, inzwischen bekommt sie regelmäßig Morphium. "Hört sich vielleicht brutal an, aber das Morphium hat meine Mutter viel netter gemacht", berichtet sie, "dieses Genörgel von früher, ist alles weg. Neulich waren wir mit ihr zwei Tage an der Ostsee, klare Wintersonne, ein wildes Meer. Sie konnte sich richtig darüber freuen. Sage keiner was Schlechtes über Morphium." Theresa hat manchmal etwas sehr Pragmatisches. Die Runde schweigt.
"Bei mir ist es immer noch das Gleiche", seufzt Susanne, "kein Schlaganfall, kein Alzheimer, kein Krebs. Aber sie geht einfach nicht mehr aus dem Haus. Glatteis, Regen, Zipperlein. Immer nur Gemeckere." - "Jetzt nörgelst du doch auch an ihr herum" - Britt bringt manchmal erstaunliche Wendungen -, "vielleicht müssen wir unsere Eltern akzeptieren, wie sie sind. Gilt doch umgekehrt genauso." Im Tanzraum hat keiner einen neuen Song eingelegt. Die Musik ist verstummt.
"Wachwechsel", meint Frank, "jetzt sind wir dran. Zum Glück hat meine Mutter ein Talent entwickelt, das Positive zu sehen. Sie ist milder geworden. Kommt wohl auch vor nach einem Schlaganfall." Die Mutter zieht demnächst um im Pflegeheim. Vom Einzel- in ein Doppelzimmer. Wegen der Unterhaltung. Mit der Bewohnerin hat sie sich ein bisschen angefreundet, aber die Frauen wollen per Sie bleiben, erst recht im Doppelzimmer. "Sie hat bei mir jetzt ein paar Flaschen von ihrem portugiesischen Lieblingswein bestellt", berichtet Frank, "den will sie auf der Station verteilen." - "Irgendwas geht immer", sagt Theresa. Das hört sich jetzt an wie der Refrain in einem Popsong. Britt erhebt sich: "Ich leg mal Eminem auf."
Vielleicht wird es ja doch noch was mit dem Tanzen.
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