Kolumne Geräusche: Die Pest in den Zeiten der Cholera
Hitze, offene Fenster und die Zumutung, auf der Welt nicht alleine zu sein: So sieht Gentrifizierung in Neukölln aus.
U nlängst begingen wir den fatalen Fehler, aus einem nordhessischen Naturschutzgebiet (Zwitscher, Tirilier, Plätscher) wieder ins nördliche Neukölln (Knatter, Wummer, Brüll) zu ziehen. Zurück also in ein Migranten- und Hartz-IV-Viertel, das sich während unserer Abwesenheit eifrig "gentrifiziert" hatte. Gentrifizierung ist für ein Stadtviertel, was die Pubertät für einen Menschen ist. Es wird attraktiv, lebendig, sozial, aber auch ein wenig wunderlich, schrill und trotzig. Es testet Grenzen aus, quackelt ständig dummes Zeug und macht Lärm, viel Lärm.
Unsere bei diesem Wetter stets offen stehenden Fenster gingen schon immer furchtlos auf eine belebte Kopfsteinpflasterkreuzung hinaus. Nichts gegen Lärm. Unsere Zweijährige schläft besser denn je. Unerträglich ist nur das Gelaber. Es ist, als hätte jemand (Gott? Wowereit?) eine andere Hintergrund-CD eingelegt. Seitdem werden auf der Straße andere Themen verhandelt als früher, als die Pigalle Bar noch ein lettischer Puff war und nicht eine schicke Cocktail-Bar, als vorne an der Ecke noch Schuhe verkauft wurden und keine Cocktails und als gegenüber im Café Istanbul türkische Männer noch türkischen Fußball schauten und nicht US-Touristen zu tief in ihre Cocktailgläser.
Früher, ja früher wurde gerne mal in die Ecke unter unserem Schlafzimmerfenster gepinkelt. Heute wird dort so kluggeschissen, als lebten wir auf dem Campus einer Universität: "… und dann hatte sie nicht mal ihren Heidegger-Reader vorbereitet …" - "… putain, ce que j'appelle déconstruction, comme Derrida …" - "… ich wollte ihn ja letzte Woche zur Rede stellen, aber da hat er gerade an seiner Predigt gearbeitet …" - "… really? I thought McLuhan meant, that media …", und so geht das Nacht für Nacht, unterbrochen nur durch das sektlaunige Gegacker der dummen Hühner, die drüben vor dem "Mama" unter dem Mond auf der Straße hocken. Da lobe ich mir die Pension Diamant, das letzte verbliebene Bordell im Quartier. Verschwiegener Service, verschwiegene Kunden. Ganz wie früher.
Arno Frank (36) ist taz-Redakteur. Er kann lesen und schreiben. In seiner Freizeit spielt er gerne Flipper, hört schlechte Musik, schaut sich gute Pornos an und erschlägt manchmal kleine Hunde.
Leider auch ganz wie früher ist der Nachbar, der jeden Abend um elf noch betrunken seine marodierenden Köter Gassi führt: "Hey, Zweig, was machstn da? Ey, komm jetzt unter dem Auto raus! Lena! Lena, ey, was solln das jetzt? Komm her! KOMM HER! Was habtn ihr da? Hühnerknochen? Klar, Knochen, klar, ey. Ja, rennt ruhig weg. Haut euch nur diesen Knochen rein, ja, FRESST ihn! Und viel Spaß morgen früh BEIM SCHEISSEN, IHR VOLLIDIOTEN!"
Ich gehe gerade senkrecht die Wand hoch, da murmelt meine Frau schlaftrunken: "Is schon okay. Morgen früh liegen die da draußen alle mit Kater im Bett." Na, und dann? "Spätestens um sechs Uhr wird unsere Kleine wach. Dann gnade ihnen Gott."
Text: "Hot town, summer in the city / Back of my neck getting dirty and gritty / I been down, isnt it a pity / Doesnt seem to be a shadow in the city / All around people looking half dead / Walking on the sidewalk / Hotter than a match-head" (The Lovin Spoonful)
Musik: Das dumpfe Flattern von Ventilatorenwind in der Ohrmuschel.
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