Kolumne Finnisch für Anfänger: Beine bis zum Kinn
Wenn wir schon mit Sportschuhen stolpern, dann stolziert die Russin an uns vorbei: Auf 10-Zentimeter-Stilettos.
I n jeder dritten Bar und in jedem dritten Restaurant läuft Fashion-TV. Biedere Etablissements dekorieren ihre Wände mit Brautfotos. Die Stadt ist besessen davon, sich mit weiblicher Schönheit zu schmücken. Die Männer sind bestenfalls muskulös und fallen nicht weiter auf.
Nachdem ich Helsinki verlassen habe, bin ich nun in der Stadt des Winterpalasts und der vielen Kirchen angekommen, in St. Petersburg. Goldene Kuppeln glänzen. Aber vor allem habe ich das H&M Universe verlassen; hier herrscht eine andere Kleiderordnung. Keine Leggins mehr unter dem Sommerrock, keine Schwangerenkleidung für die 20-Jährigen mit dem Gürtel direkt unterm jetzt quellenden Busen - in Petersburg trägt frau ein perfekt tailliertes und tief dekolletiertes Cocktailkleid über dem nackten, wohlgeformten Bein. Die Haare sind in aller Regel lang, die einen bügeln sie sich glatt, die anderen traktieren sie mit dem Lockenstab. Eingefallene Schultern fehlen im Stadtbild, ebenso Frauenbäuche. Meine Geschlechtgenossinnen präferieren 10-cm-plus-Stilettos. In Moskau gehts noch viel greller zu. Aber schon hier bin ich mit meinen Chucks eine Seltenheit.
Warum fasziniert mich das? Ich weiß ja, wie schmerzhaft derlei Schuhwerk ist. Und ich weiß auch, dass die Mehrheit der Frauen diese krasse Körperarbeit nicht aus Langeweile leistet, sondern weil Schönheit in einer patriarchalen Gesellschaft Ansehen und Aufstieg via Heirat verheißt. Der glitzernde Schein, so die Experten, ist das Opium, das Putin der Bevölkerung zuteilt. Aber wider alles Wissen: Mir gefällt, wie unverdruckst Arsch, Titten und Bein gefeiert werden. Grinsend sitze ich dem Versprechen auf, das diese Frauenkörper formulieren: Glamour schlägt Tristesse. Also auf zum Shoppen.
Ines Kappert ist Redakteurin im taz-Meinungsressort.
St. Petersburg wimmelt von Designerläden. Die Jil-Sander-Filialen lasse ich geflissentlich unbeachtet und widme mich den bezahlbaren Läden. Angesichts eines monatlichen Durchschnittslohns von etwa 440 Euro und weil Sommerschlussverkauf ist, gibt es selbst für mich sehr hübsche Dinge. Die Verkäuferinnen freuen sich über eine Ausländerin und kramen geduldig Kleidungsstücke von Moskauer Designerinnen in meiner Konfektionsgröße hervor. Ich werde fündig und schlappe stolz zu einer Vernissage im angesagten Café "Che". Schäbige Kunst, ein alberner Künstler - und irre Frauen. Mit einem Glas Sekt an die Bar gelehnt, fange ich an zu zählen. Nach geschätzten 45 Minuten hat sich der Raum mit 37 Frauen gefüllt, von denen ich 14 sofort nach Hollywood schicken würde. So stelle ich mir Los Angeles vor.
Um nicht weiter das hässliche Entlein performen zu müssen, mache ich mich auf den Weg in eine Bar, in der die Alternativszene sich trifft. Urin- und Bierspuren auf dem Boden, Graffiti an den Wänden des versteckten Innenhofes vom Kunstzentrum, dann geht es ein paar Treppen runter, der Türsteher will Eintritt. Ein Schlagzeuger, ein Bassist und ein Sänger hören sich gut zusammen an, an der Bar gibt es prima billiges Bier. Ich bin noch die anderen Preise gewöhnt und lege zu große Scheine auf den Tresen. Der Barkeeper ist genervt, achtet aber darauf, dass ich nicht zu viel bezahle. Die Frauen haben kurze, ostentativ ungepflegte Haare, ihre Schuhe sind flach und die Klamotten unauffällig.
Codemäßig bin ich wieder zu Hause und passe mit meinem Designerfummel überhaupt nicht ins Bild. Das ist gut. Schließlich bin ich auf Reisen.
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