Kolumne Die Stimme aus dem Ausland: So gar keine Passion
Merkel wird das Image der langweiligen Großtante nicht los. Beim Wahlvolk sind dennoch keine Tollheiten zu erwarten. Der Blick aus Frankreich.
D a sind wir also, eines Sommersonntagnachmittags, beim Zeitverdaddeln auf YouTube: Uns wird ein Interview mit Angela Merkel angepriesen, geführt von jungen deutschen YouTubern. Man merkt sofort, was Phase ist. Merkel will runter vom Image der Großtante, die dich während einer endlosen Familienfeier anödet. Die Kanzlerin hat nichts Animierendes, aber vielleicht erhebt sie sich auf YouTube doch noch vom Stuhl und erzählt uns was vom Pferd mit ihrer ganzen Erfahrung. Zumindest ist vage vorstellbar, dass Merkel doch weniger hölzern auf die hammerharten Fragen der jungen Deutschen antwortet. Leider nein.
Den deutschen Wahlkampf von Frankreich aus beobachten, das ist in etwa so, wie die misslungene zweite Staffel einer eigentlich vielversprechenden Serie zu gucken. Die erste Staffel spielte ja bei uns. Inhalt: ein Finanzskandal, unwürdige Politikermanöver und total eingeschnappte Wähler. Geendet hat die Staffel so unerwartet wie leidenschaftlich – die zwei größten französischen Parteien, die Sozialisten und die Republikaner, zerbröselte es im ersten Wahlgang zugunsten von Macron und Le Pen. Und dann schaffte es auch noch dieser Jungspund mit dem bereits geplatzten Versprechen, die Politik zu erneuern.
Die zweite Staffel spielt jetzt jenseits des Rheins und hat so gar nichts Passioniertes an sich, denn selbst beim Wahlvolk sind keine Tollheiten zu erwarten. Obwohl: Wäre es nicht irre, die Deutschen würden plötzlich doch in Scharen SPD wählen und Martin Schulz den Weg ins Kanzleramt ebnen? Einfach so, aus Mangel an Alternativen. Irgendwie hat der Hoffnungsträger der SPD ja auch eine romaneske Seite. War er doch mal ein Faulenzer, Raufbold, Alkoholiker und Buchhändler, der sich in die höchsten politischen Sphären katapultierte.
Wenn das kein Stoff ist, um die zweite Staffel dieser Politserie doch noch in Gang zu kriegen! Wir hatten ja schon große Augen gemacht, als der Kandidat Schulz zu Jahresanfang plötzlich in den Umfragen abging. Und sie gleich wieder geschlossen, als bald darauf klar wurde, dass erneut die CDU den Wahlsieg einfahren würde.
Andererseits: Wir Franzosen verstehen euch. Warum auch auswechseln, wenn es bis jetzt zu funktionieren scheint? Ihr Deutschen habt es gefühlt geschafft, die widerlichen Debatten über das zusammengerührte Thema Islam, Migranten und Terrorismus beizulegen. Debatten, die in Frankreich den Wahlkampf vergiftet haben. Bleibt zu hoffen, dass die Wahl die Deutschen nicht völlig wegdämmern lässt (so wie es uns auf YouTube erging). Denn, wie sich jetzt in Frankreich zeigt: Das Aufwachen kommt gern brutal daher.
Übersetzung: Harriet Wolff
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