Kolumne Das Schlagloch: Der blaue Blick der Gerechten
In der DDR wie auch jetzt maßen sich manche eine höhere Warte an.
Vielleicht haben die meisten nichtstumpfen Wahrheiten einen paradoxen Kern. Von der DDR ist vor allem Papier geblieben, tausende Kilometer von Stasi-Akten, Dokumente menschlicher Niedrigkeit zumeist, Dokumente auch einer gigantischen Angstneurose des Staates vor seinen Bürgern. Doch die Papierberge täuschen auch. Denn sie verdecken die Hemmung im Partei- und Staatsapparat der DDR, überhaupt etwas schriftlich festzuhalten, Beschlüsse und Entscheidungen zu fixieren.
Keine Spuren hinterlassen! Jeder Untergrundarbeiter weiß das. Und aus dem Untergrund und aus den Gefängnissen der Nationalsozialisten kamen sie fast alle, die später die DDR regierten. Ihr Politik- und Weltbegriff hat sich nie ins Taghelle erweitert. Sie waren Verfolgte, die zu Verfolgern wurden. Freund oder Feind, nichts dazwischen. Vor allem nicht die Sphäre des Lebbaren, des Zivilen.
Ja, man könnte es beinahe gelassen sehen. Und so überlegen, wie die Menschen an jenem 4. Oktober 1989 in Leipzig waren, an dem sich das Schicksal der friedlichen Revolution entschied. Kerzen haben sie den Staatssicherheitsleuten auf ihre Treppenstufen gestellt. Und die MGs dahinter haben das Feuer nicht eröffnet. Auch dieses Ende der zweiten Diktatur auf deutschem Boden ist ein Grund dafür, sie nicht mit der ersten gleichzusetzen. Einer, der diese Gleichbehandlung beharrlich fordert, ist Hubertus Knabe, der Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen in Berlin.
Im Augenblick scheint Knabe gerade wieder mehr Recht zu haben als sonst. Im letzten Jahr hat er ein Buch veröffentlicht, das heißt "Die Täter sind unter uns", und darin steht genau das: Die Spitzel heben die Köpfe und werden immer frecher. Im Januar erschien in der Berliner Zeitung ein sehr unfreundlicher Artikel über den Gedenkstättenleiter und Historiker Knabe, und was stellte sich vor gut einer Woche heraus? Die Täter sind unter uns, wie Knabe sagen würde.
Thomas Leinkauf, der verantwortliche Redakteur der "Seite 3" und der Wochenendbeilage der Berliner Zeitung, war IM der Staatssicherheit. Er hat den Anti-Knabe-Artikel nicht geschrieben, aber erscheinen lassen, vielleicht wegen der Pressefreiheit. Doch er hat Artikel verfasst mit Überschriften wie "Die Akten und die Wahrheit", was viele jetzt als besonders verwerflich empfinden. Thomas Leinkauf durfte bis eben davon ausgehen, dass die Akten ihn nie verraten würden. Denn der schriftliche Nachlass der "HVA", der "Hauptverwaltung Aufklärung", also des Auslandsgeheimdienstes der DDR, in dessen Auftrag er nicht nur Kommilitonen bespitzelte, gilt als fast vollständig vernichtet. Es gab bereits eine Stasi-Überprüfung der Berliner Zeitung Anfang der Neunziger. Zwölf Mitarbeiter mussten damals gehen. Seinem früheren Chefredakteur hat er sich offenbart. Die Wellen der Empörung schlagen hoch, nun schon eine Woche lang.
Hätte der Mann nicht etwas sagen müssen, öffentlich?
Hätte er. Er hätte aber zugleich die Bereitschaft aufbringen müssen: seinen Schreibtisch zu räumen und nach Hause zu gehen. Ich war IM! Viel mehr konnte ein IM bisher nicht sagen. Und es ist schon so: Wer will die Rechtfertigungen eines IM hören? Jede Zeit hat ihre eigenen Sprachlosigkeiten.
Wahrscheinlich war Thomas Leinkauf das Missverhältnis zwischen seinem Vergehen und der Konsequenz zu groß. Seine Selbstauskunft "Ich war damals jung, ich war Student" lässt das vermuten. Aber seltsam leichtfertig klingt sie auch. Wer jung ist, sollte der nicht erst recht spüren, wie widerwärtig es ist, andere zu bespitzeln? "Ich war damals jung" - umso schlimmer, möchte man sagen. Wenn man denn etwas sagen möchte.
Es ist eine unangenehme Rolle. Die DDR verlangte unentwegt, dass man sich bekannte, dass man verurteilte, sich empörte. Es liegt eine verdächtige Selbstgerechtigkeit darin, eine angemaßte höhere Warte. Sie sprach in der letzten Woche auch aus den Leserbriefspalten der Berliner Zeitung. Ich, der Leser, gehe, wenn Leinkauf bleibt, heißt es da immer wieder. Der blaue Blick der Gerechten. Dazwischen waren vereinzelte Bekundungen von Toleranz, oder sollte man sagen: Verharmlosung? Es gibt Fälle, da klingt alles, was man sagt, anders falsch, und dies ist wohl einer.
Natürlich gibt es ein Recht auf Intoleranz. Menschen, denen man früher meinte als Freund zu begegnen und von denen man später erfuhr, dass ihr Interesse ganz andere Gründe hatte, möchte man nie wiedersehen. Näheverhältnisse sind empfindlich. Sie neigen zu Fundamentalismen. Aber: Den möchte ich nicht wieder lesen?
Jetzt verstehe man Leinkaufs Artikel über die Staatssicherheit schon viel besser, wurde gesagt. Es ist der trivialste aller möglichen Schlüsse. Die Texte halten stand, beim Wiederlesen. Es sind eher Erkundungen, sich vor allem am Fall der krebskranken Schauspielerin Jenny Gröllmann entzündend, die bis zu ihrem Tod und vor Gericht dafür gekämpft hat, dass niemand sie als IM bezeichnen darf. Nicht nur Leinkauf ist dem Fall nachgegangen, nicht nur er hat Gröllmann mehr geglaubt als den Sachverständigengutachten.
Da hat einer eine Erfahrung mit sich, die bleibt im Hintergrund. Daraus wird oft nicht die schlechteste Art Text. Und wenn die Berliner Zeitung wirklich besondere Verdienste hat im Umgang mit der DDR-Vergangenheit, dann entspringen die gerade nicht der sicheren Knabe-haften Distanz des Nichtdabeigewesenseins. Wahrscheinlich meinte Leinkaufs "Ich war damals jung" noch etwas anderes: Ich war noch nicht ich.
Die Wege zu sich selbst waren unterschiedlich weit in der DDR. Die meisten hatten ein sehr geringschätziges Verhältnis zu dem Staat, in dem sie lebten. Kinder spürten das. Und sie erfuhren früh, dass ein Staat nichts ist, dem man treu sein muss, dass es aber das Letzte ist, jemanden an ihn zu verraten. Leinkaufs Eltern waren im diplomatischen Dienst, an der DDR-Botschaft in Nordkorea. Eine Gegenwelt, seltsam ortlos. Leinkauf war gewissermaßen ein geborener Mitarbeiter der HVA, man kennt das von anderen Botschafterkindern in der DDR. Wie dämonisch die Herrschaft von Ideen über das Leben ist, in deren Namen man andere verrät, lernten sie anders, viel schmerzhafter oft, weil eine Trennung von ihrer Herkunftswelt darin lag.
Am 16. April um 20.15 Uhr läuft in der ARD ein bemerkenswerter Film. "12 heißt: Ich liebe dich!". Die wahre Geschichte der Liebe eines Staatssicherheitsoffiziers und seiner Untersuchungsgefangenen, die nach der Wende ein Paar werden - das Opfer, inzwischen Mitarbeiterin einer Stasi-Gedenkstätte, und der Täter. Es muss einem Film längst nicht gelingen, was die Wirklichkeit schaffte: das zu erzählen, jenseits jeden falschen Tons, jenseits vor allem der Fernsehalltagssentimentalität. Claudia Michelsen und Devid Striesow in den Hauptrollen gelingt es. Noch vor Jahren wäre ein solcher Stoff undenkbar gewesen im Fernsehen. Und das Ende erst: Denn auch "Opfer" können entlassen werden. Nun, da die frühere Gefangene mit einem "Täter" lebt, scheint sie nicht mehr tragbar als Zeitzeugin und Gedenkstättenmitarbeiterin.
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