Kolumne Das Schlagloch: Verrücktsein ist so belebend
Über das Leben der Singlefrau zwischen Einsamkeit und Unternehmungsgeist
Bin ich die Einzige, der die verlorenen Schuhe auffallen? Wohin ich auch fahre, mir begegnet immer wieder ein einzelner Schuh am Fahrbahnrand. Neulich, eine Sandale kurz vor dem Kreisel. Auf der Autobahn nach Berlin ein Turnschuh - und das waren nur die letzten zwei! Automatisch fragt man sich da, bei welcher Art von Bewegung man aus dem Fenster oder dem Schiebedach heraus einen Schuh verliert. Nächste Frage: Aber warum dann nicht beide? Was mag geschehen sein, weswegen die Sandalenfrau auf der fast leeren Landstraße nicht angehalten hat?
Die erschreckende Häufung verlorener Schuhe deckt sich mit einem anderen Phänomen aus meinem Bekanntenkreis: Von mir selbst, dem geschiedenen Dauersingle, einmal ganz abgesehen, laufen immer mehr vereinzelte Frauen im besten Alter herum. Einige sind laut, andere leise, manche sportlich, andere gemütlich, alle klug und sympathisch. Kurzum, es sind die unterschiedlichsten Frauen, doch mit einer Gemeinsamkeit: Wenn man Mann wäre, wollte man mit genau so einer zusammen sein.
Wollen sie aber offenbar nicht, die entsprechenden Männer, obwohl diese Frauen eigener Aussage nach durchaus wollen! Eine Erklärung liegt sicher darin, dass sich Männer klugheits-, alters- und statusmäßig eher nach unten orientieren, eine weitere Theorie besagt, dass weniger Männer charakterlich reif und beziehungsfähig sind als Frauen. Als dritte Erklärungsmöglichkeit kann man die Statistik heranziehen: Es sitzen in Deutschland 50.000 mehr Männer als Frauen im Knast, ungefähr doppelt so viele Männer sind schwul wie Frauen lesbisch - aber reicht das aus, um den Männerüberschuss zunichte zu machen, den uns die Differenz zwischen XX- und XY-Chromosom bei den Geburten beschert?
Doch von nun an will ich die Ursachensuche beiseite lassen und eine Geschichte aus anderer, längst vergangener Zeit erzählen, entnommen einem Buch von Virginia Nicholson mit dem schönen Titel "Singled Out". Nicholson berichtet hier von einer ganz speziellen Generation britischer Frauen, der "Spinster" (ledige Frau, alte Jungfer) als indirektem Opfer des Ersten Weltkriegs. Weil so viele junge Männer im Krieg dahingeschlachtet worden waren, blieben zwei Millionen britischer Frauen notgedrungen ohne Mann, und das in einer Zeit, in der sich das Los einer Frau vor allem in Ehe und Familienglück zu erfüllen schien. Von den "Surplus Women" (Überschussfrauen) war die Rede, von Husband Hunt (Gattenjagd) und Matchless Maidens (Mädchen ohne Gegenstück); unzählige Ratgeber zum Thema erschienen, und in den Zeitungen häuften sich die Karikaturen von alternden Jungfrauen mit Ehewunsch.
Die einzelnen Lebensbögen, die Nicholson anhand von Memoiren der Vergessenheit entreißt, spannen sich zwischen den Polen Einsamkeit und Unternehmungsgeist. Einerseits sehnten sich viele Singlefrauen nach Nähe, nach Sex, nach Kameradschaft, nach Kindern; andererseits machten viele das Beste draus: Sie kauften sich ein Haus oder einen Hund, pflegten ihren Garten, zogen als "Universal Aunt" (Universaltante) unzählige Kinder auf oder bereisten die Welt. Manche priesen ihr Leben in Unabhängigkeit und scheinen von ihren Freundinnen, Hobbys und sozialen Engagements 24 Stunden am Tag erfüllt zu sein. Dann wieder priesen sie sich selbst in Anzeigen an, grübelten über die Statthaftigkeit der Masturbation nach und mieteten Tanzpartner für sechs Pennys pro Tanz.
"Das Leben ist hart für alleinstehende Frauen, also erwartet nicht, dass andere Leute freundlich oder verständnisvoll sind", legte die Autorin F.M. Mayor ihrer Romanheldin in den Mund. Die Pädagogin D.F.P. Hiley hingegen empfahl: "Lasst den freien Teil eurer Persönlichkeit im Wind flattern… Verrücktsein ist so belebend."
Das Irre ist: Wenn man dieses Buch liest, hat man das Gefühl, dass vieles ganz und gar gleich geblieben ist. Obwohl das Leben von Singles beiderlei Geschlechts heute bisweilen irrtümlich zu einer Art fortdauerndem Großstadtabenteuer idealisiert wird, gibt es sie gleichzeitig immer noch, diese spezifische Prise Verachtung, die sich in ein Gespräch über unverheiratete Frauen schleicht. Ein alternder Junggeselle ist eigen, eine alleinstehende Frau wird kratzbürstig und sonderbar. Sie ist "verzweifelt" oder "tapfer" und hat "es" (Partner finden) leider nicht geschafft. Manches Mal habe ich gebildete, linke, angeblich reflektierte Kollegen über Frauen, nie aber über Männer abfällig sagen gehört, sie seien "oversexed und underfucked". Je besser sich die Singlefrau in ihrem Leben einrichtet, je freier sie ihre Persönlichkeit im Winde flattern lässt, desto geringer werden ihre Chancen auf einen Mann.
Zwei Dinge allerdings haben sich geändert: Früher mussten Frauen meist wählen zwischen Familie und Beruf, und viele Karrieren konnten nur zustande kommen, weil die Betreffenden nicht geheiratet hatten. Das ist heute glücklicherweise anders, doch entsprechend geringer fällt auch die Gratifikation für das heutige berufstätige "Spinster"-Dasein aus. Vor allem aber, und das ist der zweite Unterschied, wird die heutige Singlefrau nie von der Leine der trügerischen Hoffnung gelassen. Früher wusste eine Unverheiratete ab Mitte, Ende zwanzig, dass ihre Zeit der Chancen vorbei war. Heute wird zur Husband Hunt geblasen bis in die Fünfziger hinein; wohin man schaut, versprechen die Medien spätes Liebesglück.
Es gibt keine Garantie für dieses Glück, im Gegenteil, ab einem bestimmten Alter wird es selten wie ein Lotteriegewinn; um solchen Glücks aber überhaupt "würdig" zu sein, verlangt es ständige Arbeit an sich selbst, dem Alltag und dem Körper. Und so fangen viele Singlefrauen letztlich nie an, ihr Leben als Alleinstehende wirklich ernst zu nehmen, weil sie sich immer bereit machen und bereit halten für einen eventuell kommenden Mann. Und was, wenn wir die Hoffnung einfach fahren ließen? Wenn wir akzeptierten, dass die zu uns passenden Männer nicht existieren, so wie die Gefallenen des Ersten Weltkriegs oder der zum Fenster hinausgeflogene Schuh? Ist es wirklich sinnvoll, alle Autobahnen abzuklappern und alle Kreisel, und die dort gefundenen Schuhe anzuprobieren, wieder Blasen, wieder Schmerzen, und nachher steht man wieder nur auf einem einzelnen beschuhten Bein?
Zum Leben der meisten Menschen gehört das Vermissen dessen, was ihnen entgangen ist; am sichersten aber verdirbt man es sich selbst, wenn man geringschätzt und nur als vorläufigen Ersatz begreift, was das eigene, nicht perfekte Leben tatsächlich an Gutem zu bieten hat. Auch das Leben als Single hat seine eigenen Herausforderungen und Reize, es ist nicht bloß der Vorspann zu einem ungewissen Happy-End. Die Autorin Winifred Holtby jedenfalls hatte sich ihr Dasein als Unverheiratete nicht ausgesucht, sie war nicht immer glücklich damit. Und doch ließ sie ihre Romanfigur Sarah die Konsequenz ziehen: "I was born to be a spinster, and by God, Im going to spin. ("Ich bin zur versponnenen alten Jungfer geboren, und bei Gott, ich werde spinnen/frei drehen/kreiseln.)
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