Kolumne Das Schlagloch: Pioniere des Wandels
Wer das Klima retten will, muss mit unhaltbaren Gewohnheiten brechen und zwar auf vielen Gebieten: Mobilität, Wohnen, Ernährung. Ein Zivilisationsschub ist notwendig.
S pätestens in vier Wochen wird uns die neue Regierung mit einem "Kassensturz" klarmachen, welche Opfer uns Banken, Zinsen und Konjunktur noch abverlangen und wofür deshalb kein Geld mehr da ist. Triste Aussichten, gäbe es nicht im parlamentarischen Untergrund des neuen Bundestages wieder diese neue, zukunftskluge, wenngleich kleine Fraktion … aber über die später mehr, zunächst zum Kassensturz: Der schlimmste hat schon vor der Wahl stattgefunden, fast ohne Öffentlichkeit.
Am 1. September übergab der "Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen" der Regierung sein Sondergutachten "Kassensturz für den Weltklimavertrag" - zahlengespickte, ungeduldige sechzig Seiten. Ausgehend von Berechnungen der Potsdamer Klimaforscher stellt es fest, wie viel CO2 die Weltgesellschaft noch freisetzen kann, wenn das Klimaziel von 130 Staaten - nicht mehr als zwei Grad Erwärmung - erreicht werden soll. Ernüchternde Bilanz: Bis 2050 dürfen es nur noch 750 Gigatonnen sein. Das ist das Budget. Und wenn man dieses Budget gerecht aufteilen will - also auf die Köpfe der Weltgesellschaft umrechnen, wie es Angela Merkel einst vorgeschlagen hat -, dann haben die USA ihren Anteil bereits vor neun Jahren erschöpft und die Deutschen ihr Limit jetzt erreicht. Chinas Marge reicht bis 2035, Indien könnte noch 106 Jahre emittieren wie heute, und Burkina Faso 2.820 Jahre. Und wenn alle so weitermachen, dann ist die Atmosphäre schon 2030 voll.
Derlei Bilanzierungen sind nicht abstrakt, sondern vernünftig. Denn ohne globale Chancengleichheit wird es nie zu wirksamen Vereinbarungen zwischen den Industrie- , den Schwellen- und den Entwicklungsländern kommen.
Das fordert den reichen Nationen zweierlei ab: eine deutlich schnellere Wende zur CO2-freien Industrie, und substanzielle finanzielle und technische Hilfen für die Entwicklungsländer. Der WBGU macht einen ebenso klaren wie radikalen Vorschlag für die Kopenhagener Verhandlungen: 1. Das 2-Prozent-Ziel muss völkerrechtlich zementiert werden. 2. Den Nationen wird eine CO2-Kopfpauschale zugeteilt. 3. Eine globale "Klimazentralbank" wacht über Obergrenzen, Quoten und Klimainvestitionen. Eine solche Kontrolle muss sein, denn "spätestens ab 2020" muss es zu sinkenden Emissionen kommen.
Kein Zweifel, eine solche "internationale Kooperationsrevolution" ist eine "globale Herkulesaufgabe", ein weltumspannender "politisch-moralischer Willensakt wie bei der Abschaffung der Sklaverei oder der Kinderarbeit im 19. Jahrhundert". Die nüchternen Wissenschaftler greifen zu großen Worte, aber die Alternative zu "couragiertem politischem Handeln" sei der Weg direkt in Ernährungskrisen, Massenmigration, riskante Großtechnologien und Notstandsregimes. Wenn jetzt nicht groß gedacht und gehandelt werde, sollten die Politiker lieber schnell "eine ehrliche Kapitulationserklärung" abgeben.
Und auf wessen Courage können wir setzen? Der scheidende Minister Gabriel fand weder zum Mut noch zur Kapitulation die Kraft; er nannte den "Budgetansatz" einen "interessanten Vorschlag", der aber "in absehbarer Zeit" keine Chance habe, "zum wirklichen Verhandlungsgegenstand zu werden". Weswegen er das Gutachten auch gar nicht selbst in Empfang nehmen mochte. Für die nächste Zeit werden wohl die regierungsnahen großtechnologischen Optimisten das Sagen bekommen, die auf Atomenergie, CO2-Verklappung oder auf Strom aus Sahara-Sonne setzen - Vorhaben, von denen keiner verbindlich sagt, ob sie auch nur technisch realisierbar sind und die frühestens in zehn Jahren begonnen werden könnten. Not aber täte, so das Drängen der neun Experten, ein umfassender "Bruch mit unhaltbaren Gewohnheiten" auf vielen Gebieten: Mobilität, Wohnen, Ernährung. Ein Zivilisationsschub, den "die Menschen" nur mitmachen werden, wenn "Pioniere des Wandels" vorausgehen.
Und genau hier setzen wir unsere Hoffnung auf die zukunftszugewandte, wenngleich kleinste Fraktion im Bundestag - und auf ein Projekt, das nicht großtechnisch, sondern groß gedacht ist. Es könnte unverzüglich in Angriff genommen werden, würde in alle Welt ausstrahlen und könnte viele Menschen engagieren - Investoren, Ingenieure und Arbeiter. Und überdies ist es finanzierbar. Es heißt "Energieallee A 7". Neben seiner technischen Ausgereiftheit kommen ihm drei verbreitete Meinungen entgegen: 1. Windenergie ist gut. 2. Aber bitte nicht bei mir nebenan. 3. Autobahnfahren ist notwendig, aber nicht schön. Daraus folgt der Vorschlag, eine Allee von 1.200 Windrädern entlang der 960 Kilometer der A 7 zu bauen, von der dänischen zur österreichischen Grenze. Sie würden keine Naturlandschaften zerstören und könnten mit einer einfachen Änderung der Raumordnung in zwei bis drei Jahren gebaut werden.
Die Baukosten betrügen sieben Milliarden (also anderthalb Abwrackprämien), aber da sie über die Einspeisevergütungen nach dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz auf alle Stromkunden umgelegt würden, würde sie die Staatsetats nicht belasten. Die Allee würde 2,2 Prozent des deutschen Stromverbrauchs decken, und Automobilisten könnten demnächst entlang der A 7 Strom tanken. Vor allem aber wäre sie ein Symbol: dafür, dass die Politik das Klimaproblem entschlossen anpackt.
Natürlich ist nicht zu erwarten, dass die Koalition so etwas in Angriff nimmt, und schon gar nicht, wenn die Idee für die "Energieallee A 7" von dem SPD-Abgeordneten Hermann Scheer kommt. Eher schon wird sie sich mit der Parole "Klimapakt" in die Schlacht um die Verlängerung der Atomlaufzeiten stürzen. Aber da gibt es eben diese Gruppierung im Bundestag, "Eurosolarfraktion" genannt, parteienübergreifend, die schon das EEG auf den Weg gebracht hat, oft gegen den Willen der Fraktionsführungen. Sie ist gewachsen und wächst weiter, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie sich der Idee annimmt. Und wenn sie damit erfolgreich ist, dann kriegen wir vielleicht demnächst noch eine Bildungsfraktion und eine Vollbeschäftigungsfraktion und eine Öffentliche-Güter-Fraktion. Und damit hätten wir: ein echtes bürgerliches Parlament mit lauter freien Abgeordneten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte
Schwarz-Grün als Option nach der Wahl
Söder, sei still!