Kolumne Anderes Temperament: Whiskey Sour im Sandwichkiez
Trotz gegenteiliger Stimmen: Der zwischen Kotti, Görli und freiem Neukölln liegende Sandwichkiez hält sich als Gesamtbrache ganz gut.
T oll, da war in meiner kleinen, unbedeutenden Kreuzberger Straße endlich mal was anderes los als Kinderwagenstau vor Beumer & Lutum, Dealerrazzia am Parkeingang, Sanitätereinsätze am Harald-Juhnke-Gedächtnis-Platz, stundenlanges Robben-&-Wientjes-Pritschen-Einparken nicht Auto fahren könnender Studenten, und ich war nicht da. Aber gut, selbst wenn ich da gewesen wäre, hätte ich wohl nichts mitbekommen. Denn auf diese Brache ist Verlass. Da passiert nichts.
Sie ist eine tolle Brache. Eine ganz besondere. Das muss einfach gesagt werden. Anders als die Exbrachen um die Ecken, die korrupte Brachen sind, weil sie sich vor ein paar Jahren von einer Moschee beziehungsweise einem McDonald’s überbauen ließen. Die Cuvrybrache bleibt eine widerständige Brache, an der sich schon so mancher echte Investor seine Zähne ausgebrochen hat. Wer da schon alles hinwollte und dann doch nicht kam: Loftbauer, Einkaufszentrumserschaffer, Discobetreiber und jetzt eben die Guggenheim-Lab-Macher.
Diese rar werdenden zählebigen Brachen sind ja bekanntlich die einzig wahren Mahnmale gegen den Naziwahnsinn: Dort, wo Nazi war, soll einfach nichts sein. So war es lange am Potsdamer Platz, keine Mitte, kein Zentrum zur Planung eines Massenmords, kein Shopping- oder Begegnungszentrum.
Gottloser Ostertourismus
ist Redakteurin der taz.
Aber gut, das mit den Nazis ist lange her, und jetzt ist Ostern 2012, und in diese Stadt, in die kein Gott je einen Fuß gesetzt hat, wovon die Regel „Katholische Kirchen müssen von zwei Wohnhäusern eingerahmt werden“ noch heute zeugt, wird wieder mal von Ungläubigen aller Art geflutet: Zwei Millionen Touristen werden erwartet. Deren organisierte Stadtführungen durchs mythische Kreuzberg werden neben Ex-Bolle, Kotti, SO 36 und Mauerrest dieses Mal wahrscheinlich auch vor der widerspenstigen Brache haltmachen.
Denn da hat es wieder mal sein Gesicht gezeigt, das rebellische Kreuzberg, und damit sein Image gepflegt. So was lieben die Touristen. Wie gesagt, ich hab nichts gegen Berlintouristen. Die meisten derzeitigen Berliner waren früher selber welche.
Aber was dann doch noch gesagt werden muss, weil es sich ja sonst keiner traut: Dem Reichekiez droht keine Gefahr von einem Gentrifizierungs-Super-GAU. An dieser Stelle wurde ja bereits das letzte Mal darauf verwiesen, dass sich der zwischen Kotti, Görli und freiem Neukölln liegende Sandwichkiez noch ganz gut als Gesamtbrache hält. Nach etlichen empörten Reaktionen von Gentrifizierungsgegnern auf diese Feststellung begab ich mich also auf Vor-Ort-Recherche in den Westteil der Reichetangente, der ja eigentlich schon nicht mehr dazugehört.
Location in lost colours
Und siehe, da war sie tatsächlich, die Gentrifizierungskneipe. Grotesk voll, grotesk laut und lauter grotesk gelangweilte Gesichter. Eins wurde damit aber klar: Keine Angst, liebe Gentrifizierungsgegner, lange werden diese Leute hier nicht bleiben, die langweilen sich ja jetzt schon zu Tode. Was aber auch klar wurde: Einen besseren Whiskey Sour habe ich nie getrunken.
Nun lockte Kreuzberg an diesem Abend mit dem Angebot, den wunderbaren Detroit-DJ Theo Parrish zuzuhören.
Aber zur seriösen Untersuchung der Folgen der Gentrifizierung begab ich mich dann freiwillig dorthin, wo die Neuzugezogenen ja schon zu den Alteingesessenen gehören, nach Mitte, wo die Macher des Hate-Magazins das Erscheinen ihrer neuen Ausgabe feierten. Und zwar im „Naherholung Gretchen“, gleich neben der leerstehenden Riesenvideothek „Paradies“. „Location of lost colours“ heißt eine EP von Theo Parrish. Diese brachliegenden Läden lassen sich nicht besser beschreiben. Mitte scheint also wieder eine Option zu werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles