Kolumne Älter werden: Als die Betonköpfe die Macht übernahmen
Radiotage II: Die Kommis haben einen Hausfrauensender gekapert und machen auf Weltrevolution.
L iebe Altergenossinnen und -genossen der Generation 50 plus links. Sicher waren auch einige von Ihnen früher einmal realsozialistisch links gestrickt, so wie ich nie. Vielleicht haben Sie als Mitglied der DKP oder des MSB Spartakus ja sogar gegen die Pershings der Nato demonstriert und gleichzeitig die Aufstellung der SS-20-Friedensraketen aus sowjetischen Waffenschmieden in den Staaten des Warschauer Paktes gelobt. Und abends saßen Sie dann - wie etwa Väterchen Franz - mit ihren Glaubensbrüdern und -schwestern an langen Tischen unter Pflaumenbäumen und brachten, ferngesteuert von Moskau, mit reifem Kartoffelschnaps Toasts auf die maroden Atommeiler in Volkshand etwa am Wolgastrand aus - mit noch weichen Knien wegen der brutalen Polizeieinsätze während der Volksdemo gegen die geplante WAA des Großkapitals in Wackersteinsdorf am Mittag?
Schämen Sie sich deshalb nicht. Sie sind ja noch rechtzeitig runtergekommen von diesem Trip in die Irre. Denn sonst würden Sie doch heute nicht diese interessante und spannende (links-)liberale kleine Zeitung lesen, sondern weiter die uz, die in ihrer gerade aktuellen Ausgabe informativ titelt: "Linke gegen Afghanistankrieg!" Und Sie wüssten auch nichts von dieser schnuckeligen kleinen Kolumne, die ich ja schon einmal dazu nutzte, um mit der leider immer noch real existierenden DKP und ihren voll vernagelten Anhängern nach dem Prinzip Roland Koch möglichst brutal abzurechnen. Das war vor knapp zwei Jahren. Und damit hätte es eigentlich auch gut sein können.
Doch jetzt haben es ein paar von diesen lernresistenten Betonköpfen doch tatsächlich geschafft, das mit öffentlichem (Steuer-)Geld subventionierte private Radio Rüsselsheim zu unterwandern, in dem an Werktagen harmlose Hausfrauen 50 plus Artikel aus den beiden einen extremistisch qualitätsarmen Journalismus praktizierenden Rüsselsheimer Lokalzeitungen vorlesen und in der Nacht (da läuft das Musikprogramm) - geschätzte - zehn fast taube Stammhörer permanent mit Geräuschen aus dem Presswerk von Opel oder dem Rangierbahnhof im nahen Bischofsheim beschallt werden.
Klaus-Peter Klingelschmitt ist Korrespondent der taz in Frankfurt am Main. Das Foto zeigt ihn nach bestandener Führerscheinprüfung im Juni 1970.
Jüngst sonntags aber intonierte plötzlich ein rotes Arbeiterorchester auf UKW 90,9 krachend laut ein Loblied auf die Stalinzeit, respektive den sowjetischen Minister Kalaschnikow und das nach ihm benannte Maschinengewehr. Und der zum Dozieren neigende bekennende Marxist am Mikrofon vergoss dazu vor lauter Rührung hörbar ein paar Tränen. Später wurde noch der aktuelle Auslandseinsatz der Bundeswehr in Jugoslawien verurteilt und die deutsche Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller als Balkankriegshetzerin geschmäht. Anfang März rief Radio Rüsselsheim die Bevölkerung dann konsequent gleich zum Klassenkampf auf. Mit den der Bourgeoisie entrissenen und dann umgedrehten Kanonen werde der Sieg im Volkskrieg schon bald errungen, lautete frei nach Brecht (Weill) die über den Äther verschickte Botschaft. Danach durfte das Väterchen noch verräterische grüne Männer in Wildledermänteln abwatschen: Und wie ist das Gefühl, wenn man so langsam, langsam, langsam driftet nach rechts?
Die Revolution marschiert also. In Rüsselsheim. Im Radio. Und in der (Sende-)Anstalt Waschbar haben die todernst schwadronierenden Ewiggestrigen noch immer nicht gemerkt, dass sie keiner mehr ernst nimmt. Und das, liebe Freundinnen und Freunde, ist doch mit das Schlimmste, was einem beim Älterwerden passieren kann.
Rein: Beatles Das weiße Album. Mirabeau Der Redner der Revolution. Antiquariat. Raus: Nix.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten