: Kolonos allaaf!
■ Eineinhalb mal „Ödipus“ als Diplominszenierung im TiK
Wie verkürzt man einen Klassiker auf zwanzig Minuten? Im TiK wird gerade ein solches Rezept für die Tragödie König Ödipus von Sophokles ausprobiert: Man nehme ein paar bierselige Deutsche in Jogging-Anzügen und mit Filzhüten. Davor stelle man einen Spielmannszug samt Funkenmariechen. Das Königshaus von Theben besteht aus lauter Karnevals-Jecken. Es ist eben laut, wenn eine Stadt moralisch verfällt. Da macht es fast nichts, wenn die übrigen Textfragmente kaum zu verstehen sind. Zur allgemeinen Beruhigung fliegen Süßwaren in die Menge.
„Jetzt gehts los!“ brüllen die häßlichen Deutschen in der ersten Reihe, um dann irgendeinen mit „Augen raus!“ zu beschreien. Das muß Ödipus sein. Sticht er sich doch am Ende der Original-Tragödie die Augen aus, bevor er freiwillig in die Verbannung geht. im TiK wird dieser Abgang allerdings kurzerhand zum Rauswurf deklariert. Und dann müssen auch alle anderen Augenträger raus und können gar nicht fassen, daß sie nach weniger als einer halben Stunde schon in der Pausenhalle stehen.
Die zweite Hälfte der Diplominszenierung von Stefan Nolte ist ruhiger und besser zu fassen. Auf Sophokles' Fortsetzungstragödie Ödipus auf Kolonos liegt der Schwerpunkt des Abends. Nach langer Irrfahrt sucht Ödipus dem Orakel folgend Asyl im Machtbereich des Athener Königs Theseus. Die Menschen hier haben zwar recht merkwürdige Riten, schmieren sich für religiöse Kulte Unmengen von Karamel-Pudding ins Gesicht, um dann in Unterwäsche posierend in Zungen zu reden. Aber nach einem verkürzten Asylverfahren darf Ödipus doch im Land der Gerechten bleiben. Die Koloner halten sogar dann noch zu ihm, als Kreon anrückt um ihn nach Theben zurückzubringen. Und das, obwohl Kreon – Kolonos Allaaf! – den Spielmannszug der „Hinschenfelder Turnerschaft“ mitbringt und auch noch Ödipus' Töchter entführt.
Beruhigend auf die turbulente Abschlußarbeit wirkt das äußerst schlichte Bühnenbild von Oliver Gatta, das jeden verfügbaren Quadratzentimeter Raum ausnutzt. In der sehr zeitgemäßen Inszenierung Noltes sticht ein Schauspieler aus der lauen Menge heraus. Rudolf Danielewicz ist zwar viel zu jung für den greisen Ödipus. Doch er spielt den Blinden mit großer Überzeugungskraft. Andere haben schon stimmlich Probleme, den relativ kleinen Raum zu füllen. Die aktions- und mythenreiche Umsetzung der beiden Tragödien bietet durchaus Eindrücke, den aktuellen politischen Bezug der Stücke zu erleben.
Werner Hinzpeter
heute und morgen, TiK, 20 Uhr
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