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Archiv-Artikel

„Kollateralschaden“ oder Racheaktion?

„Time“-Recherche ergibt: US-Soldaten töteten im November fünfzehn unbewaffnete irakische Zivilisten in Haditha

BERLIN taz ■ „Wir hörten einen lauten Krach, der uns alle weckte“, erinnert sich die neunjährige Eman Walid aus der irakischen Stadt Haditha an den Morgen des 19. November letzten Jahres. Rund 150 Meter von ihrem Haus entfernt war eine Bombe explodiert, die den Fahrer eines US-Militärfahrzeuges tötete und zwei weitere Soldaten verletzte. „Dann taten wir, was wir immer machen, wenn es eine Explosion gibt: Mein Vater geht mit dem Koran in sein Zimmer und betet, dass die Familie verschont bleibt“, erzählt Eman weiter. Doch die Gebete halfen nichts.

Nach der damaligen offiziellen Version der US-Militärs starben an jenem Morgen in Haditha 15 Zivilisten durch Splitter der von Aufständischen angefertigten Bombe, die auch den Humvee der US-Truppen zerstörte. Doch eine Recherche des Irak-Reporters der Zeitschrift Time, Tim McGirk, ergibt eine andere Version. Nach Befragung zahlreicher Augenzeugen kommt er zum Schluss: Alle Zivilisten wurden von US-Soldaten getötet, die nach dem Anschlag die Häuser der Umgebung stürmten. Die offene Frage, die nun auch eine US-Militäruntersuchung beschäftigt, ist nur: Glaubten die Soldaten, aus den Häusern angegriffen zu werden, oder handelte es sich um einen Racheakt für ihren getöteten Kameraden?

Eman Walid berichtet, sie sei mit ihrer Mutter, ihren Großeltern, zwei Brüdern, zwei Tanten und zwei Onkeln im Wohnzimmer gewesen. Als die Marines ihr Haus betraten, „gingen sie zuerst ins Zimmer meines Vaters, wo er den Koran las. Wir hörten Schüsse.“ Dann kamen sie ins Wohnzimmer. „Ich konnte ihre Gesichter kaum erkennen, nur die Gewehre. Ich sah, wie sie meinen Großvater erschossen – erst in die Hüfte, dann in den Kopf. Dann erschossen sie meine Oma.“ Schließlich feuerten die Soldaten nach Emans Erzählung auf den Rest der Familie: Die Erwachsenen schirmten mit ihren Körpern Eman und ihren achtjährigen Bruder Abdul Rahman ab – beide wurden verletzt, alle Erwachsenen starben.

Die Militärversion berichtete hingegen, die Soldaten seien nach dem Anschlag aus Richtung des Hauses unter Feuer geraten und hätten sich schießend genähert. Spätere Videoaufnahmen, die Time vorliegen, zeigen jedoch keinerlei Einschüsse außen am Haus, und keine Waffe wurde gefunden.

Nachdem Time im Januar diese und andere Zeugenaussagen – auch zwei weitere Häuser wurden gestürmt und die Bewohner getötet – an die US-Armee übergab, kam eine offizielle Untersuchung in Gang. Das Militär hat inzwischen zugegeben, dass die erste Version falsch war. Die Soldaten hätten geglaubt, in einen Hinterhalt geraten zu sein, heißt es jetzt. BERND PICKERT