Körner sind was für Vögel

STEINZEITGOURMETS Das Neuköllner Restaurant Sauvage hat sich der paläolithischen Küche verschrieben. Mit Messer und Gabel isst man dort trotzdem, und das ziemlich gut, was schon Jäger und Sammler kannten

Die Zutaten für die Cracker werden acht Stunden lang bei 70 Grad gebacken

VON TIM CASPAR BOEHME

Wie sollen wir essen? So, dass es schmeckt, sagen die einen. So, dass keine Tiere leiden, sagen die anderen. So, dass Umwelt und Menschen nicht vergiftet werden, sagen mittlerweile sehr viele. Eine eher überraschende Antwort aber lautet: So wie die Neandertaler.

Was nach einer neuen Form der Erlebnisgastronomie klingen mag, setzt sich seit einigen Jahren unter bewussten Essern mehr und mehr durch. In Berlin gibt es seit einem halben Jahr sogar das erste „Paleo“-Restaurant Deutschlands: Das „Sauvage“ in Neukölln bietet Steinzeitküche aus Biozutaten. Gekocht wird mit dem, was Menschen vor dem Aufkommen des Ackerbaus mutmaßlich zu sich genommen haben – Fleisch, Gemüse, Obst, Nüsse, Samen, vereinzelt auch Milchprodukte.

Was auf der Speisekarte nicht vorkommt, sind Getreide, Kartoffeln, Hülsenfrüchte oder Zucker. Als spezielle Form der kohlenhydratarmen „Low-Carb“-Ernährung werden Lebensmittel gemieden, die Jäger und Sammler wohl noch nicht kannten. Boris Leite-Poço, der das Sauvage mit seinem Mann Rodrigo Leite-Poço betreibt, ist überzeugt, dass die heutige kohlenhydratlastige Kost die Menschen überfordert: „Getreide kennt man erst seit 10.000 Jahren, unsere Verdauung hat sich noch nicht daran gewöhnt.“ Magen und Darm seien nach wie vor auf dem Stand von Steinzeitmenschen.

Boris Leite-Poço ist aus eigener leidvoller Erfahrung zur Paleo-Küche gekommen. „Als Kind war ich ständig krank, hatte Übergewicht und starke Allergien.“ Zehn Jahre lang war der achtundzwanzigjährige Belgier Vegetarier, aus moralischer Überzeugung. Seinem Körper ging es dadurch nicht besser. Seit er sich jedoch streng nach Paleo-Diät ernähre, seien die Beschwerden weg. Von Übergewicht ist bei ihm keine Spur.

Auch wenn die Erzählung an ein Erweckungserlebnis erinnern mag, hat Boris Leite-Poço nichts Missionarisches an sich. Er und sein Mann bieten in ihrem Restaurant lediglich das an, was sie für sich als richtig erkannt haben, selbst wenn das mitunter sehr viel Arbeit bedeutet. So finden sich unter den Vorspeisen des Sauvage sogar hausgebackene Cracker und Brot. Die Zutaten, Samen, Nüsse, Möhren und Rote Bete, werden acht Stunden lang bei 70 Grad gebacken. Das Rezept haben sie aus der Not heraus zunächst für sich selbst entwickelt: Paleo-Bäcker gibt es in Berlin keine.

„Am Anfang wollten wir das gar nicht im Restaurant machen, weil es so mühsam ist. Aber die Gäste haben immer wieder nach Brot gefragt“, so Boris. Und das schmeckt durchaus überzeugend, wie auch die übrigen Speisen im Angebot, von der hausgemachten Tapenade aus schwarzen Oliven mit Zwiebeln und Rosmarin über Sellerie-Pesto und ein besonders zartes Sauerkraut bis zu den Hauptgerichten: Wildschweingulasch mit Kürbis und Kräutersalat, Rumpsteak oder Spare Ribs – sofern man kein Vegetarier ist, kann man hier ausgiebig genießen.

Bei der Auswahl der Tiere wird nicht bloß darauf geachtet, dass Fleisch oder Fisch bio sind. Denn um wirklich paleo zu sein, dürfen die Tiere ebenfalls kein Getreide als Futter bekommen. Serviert wird daher entweder Wild, Weidevieh und Fisch, der mit der Angel gefangen wurde. Lediglich bei Eiern machen sie eine Ausnahme, da Vögel ohne weiteres Getreide vertrügen.

Wie jede extreme Ernährungsform ist auch die Paleo-Diät umstritten. Ihre Vertreter schwören darauf, dass Eiweiße und Fette vom Körper langsamer verdaut werden als Kohlenhydrate und daher die besseren Energielieferanten sind. Zudem würden Kohlenhydrate zu Zivilisationskrankheiten wie Allergien bis hin zu Krebs beitragen. Die Kritiker hingegen bemängeln, dass es zu wenige Langzeitstudien gebe, um diese Thesen zu belegen.

Boris Leite-Poço sieht allerdings noch einen anderen Grund dafür, dass Kohlenhydrate in der Ernährung dominieren: „Die Lebensmittelindustrie hat einen sehr starken Einfluss darauf, wie wir uns ernähren. Der Gewinn steht an oberster Stelle. Getreide lässt sich am schnellsten anbauen, damit kannst du sehr viel Geld machen.“ Für die Paleo-Küche lässt sich das kaum behaupten: Die Zutaten sind teuer – Hauptgänge kosten zwischen 15 und 20 Euro – und erfordern in der Zubereitung viel Aufwand.

Über mangelnden Zuspruch kann sich das Sauvage jedoch nicht beklagen, in den beiden Räumen mit den erdfarbenen Wänden finden sich regelmäßig zahlreiche Neugierige und Überzeugte ein. Und vollkommen dogmatisch ist die Speisekarte dann doch nicht: Zu trinken gibt es immerhin auch Bier, aus herkömmlichem Hopfen und Malz gebraut.

■ Sauvage, Pflügerstraße 25. Informationen unter www.sauvageberlin.com