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Archiv-Artikel

Klinikum Bremen-Ost

Klaus Pierwoß, Generalintendant des Bremer Theaters, geht am Ende der Saison. „Finale“ hat er seine letzte Spielzeit genannt. Er will es gewinnen. Zum Beispiel mit Debussys Pelleas und Melisande

VON MARIO NITZSCHE

Sein Finalgegner ist Bremens Kulturpolitik, die den ihrer Einschätzung nach das Geld natürlich mit vollen Händen rauswerfenden Theaterleuten mit harter Hand die Gesetzmäßigkeiten der freien Marktwirtschaft hat vermitteln wollen. Immerhin wurde letztjährig schon mal demonstriert, dass auch für ein Theater in einer nicht völlig unbedeutenden deutschen Großstadt die Insolvenzordnung gilt – am Abgrund agierend blieb dem Theater das der Stadt vertraute Insolvenzverwalterteam, das schon den Bremer Vulkan zu Grabe getragen hat, nur knapp erspart. Gott sei Dank, der kulturbeflissene Bremer muss nun doch nicht nach Oldenburg oder nach Hamburg fahren, um in den Genuss einer Opernaufführung mit Live-Musik zu kommen.

Das Finale soll natürlich auch ein Fest für das Publikum werden, das möglicherweise zum letzten Mal die Reize des Repertoiretheaters auskosten kann, droht doch nach Pierwoß’ Abgang der Kosten sparende Umstieg auf den Stagione-Betrieb – und damit auch Gefahr für eine auf ein festes Ensemble bauende Theaterarbeit.

Ins Finale marschiert der Generalintendant, dem der Generalmusikdirektor zwischenzeitlich abhanden gekommen ist, mit vielversprechender Aufstellung: Bewährtes aus 13 Jahren Intendanz wird wieder aufgenommen, u. a. ein seltsam verzaubernder „Sommernachtstraum“ von Benjamin Britten darunter, eine perfekte „Pique Dame“ und die vergnügliche Reanimation einer Repertoire-Leiche – Massenets „Don Quichotte“. Die Aufstellung wird verstärkt durch ambitionierte Neuinszenierungen. Hervorstechend darunter: Debussys „Pelleas und Melisande“ und im anregenden Kontrast dazu Wagners „Tristan und Isolde“. „Pelleas“ gab’s noch nie in der Hansestadt, „Tristan“ schon lange nicht mehr.

„Pelleas und Melisande“ ist ein Wagnis. Aus dem Repertoire weitgehend verbannt, gilt dies sehr, sehr traurige Werk trotz operngeeigneter Dreiecksstory mit multi-letalem Ausgang als langweilig, bestenfalls für den fortgeschrittenen Musikliebhaber von gepflegtem Interesse. Die Premiere am vergangenen Freitag im Theater am Goetheplatz belehrt eines Besseren. Kenner muss man offenbar nicht sein, um dies Meisterwerk mit Gewinn zu hören, man muss nur zuhören. Und dazu zwingt vom ersten Takt an das engagiert zu Werke gehende musikalische Personal, an der Spitze der langjährige Erste Kapellmeister Stefan Klingele, dem es mit den delikat und klangschön aufspielenden Bremer Philharmonikern gelingt, Debussys eher kleinteiligen Parlandostil, der kein Gramm überschüssigen Fetts enthält, emotional so aufzuladen, dass Sorge sich breit macht, man werde bei gleichem Personal den angekündigten „Tristan“ nervlich nicht überstehen, benötigt doch Wagner bei ähnlich traurig-tödlicher Story die doppelte Zeit bei fünffacher Lautstärke. Schade nur, dass dem Publikum nicht zugetraut wurde, die Oper vollständig zu verarbeiten.

Gebannt durchs musikalische Geschehen, beeindruckt durch die intensive sängerische und darstellerische Leistung des homogenen Ensembles, das mit Sybille Specht und Armin Kolarczyk ein Traumpaar stellte, schadet es nicht, dass die Inszenierung Konstanze Lauterbachs sich zunächst sperrig zeigt.

Das Bühnenbild nährt zunächst den Verdacht, dass die Unternehmensberatung McKinsey ihre harte Hand aufs Budget gelegt hat. Wiederverwertbar für weitere Neuproduktionen? Kein mystisch dunkler Wald, in dem das Grauen lauert und geheimnisvolle Wasser rauschen, sondern eine kahle Spielfläche, durch gelb gestrichene Wände hart abgegrenzt.

Erst wenn sich Debussys Musik im Zentrum zum einzigen Male aus Melancholie löst und die Sonne orchestral durchbricht – szenisch brillant durch einen als Fluchtvehikel geeigneten Fesselballon gelöst –, werden Bühnenbild und Inszenierung klar und überzeugend: Wir erfahren, dies ist der Ort, den man unbedingt verlassen muss, will man überleben. Und wenn Melisande in nicht beherrschbare Zuckungen verfällt, ahnt man auch, wo man ist: im Untergeschoss des Klinikums Bremen-Ost, geschlossene Abteilung, Endstation, no exit.

Zum Schluss – alle sind tot, zerstört, verrückt – bleibt ein Kinderwagen stehen. Hoffentlich findet sich einer, der ihn ins Freie schiebt.

„Pelleas und Melisande“ in Bremen, ein beängstigend intensiver Opernabend, der manchen um den erwarteten kulinarischen Genuss betrogen haben mag. Gleichwohl dankte das Publikum erleichtert und bewegt mit lautstarkem Beifall. Das Finale wird der Generalintendant für sich entscheiden. Schon nach der Anfangsphase besteht hieran kein Zweifel.