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Klingende Ballade mit seltsamen Zeilen

■ Geheimnisvolle Lehrerin: Toni Morrisons „Paradies“ ist mehr als nur ein Frauenroman

Die Geschichte wächst beim Lesen. Nicht gleichmäßig wie Gras, sondern wie ein großer, alter Baum mit Ästen und Zweigen in jeder Dicke und in alle Richtungen. Es ist die Geschichte eines Ortes in Oklahoma, in dem sich eine Gruppe ehemaliger Sklaven angesiedelt hat. Sieben Familien leben hier in Ruby, nach einem merkwürdigen Ehrenkodex, der sich durch strikte religiöse Prinzipien und strenge rassische Reinheitsgesetze auszeichnet. Die Einwohner tragen alle eine verzweigte, romantisch-grausige Geschichte mit sich herum.

Ein paar Meilen weiter, außerhalb des Ortes, steht ein verlassenes Kloster. Hier wohnen fünf Frauen, die jede auf ihre Weise eine persönliche Beziehung zum Ort und seinen Bewohnern entwickelt haben. Sie sind vor männlicher Gewalt in das Kloster geflüchtet, vor Liebe, Schmerz oder Enttäuschung. Eines Tages macht sich eine Gruppe bewaffneter Männer auf den Weg ins Kloster, denn die Frauen stellen für sie eine unheimliche Bedrohung dar – sie sind unabhängig, sie sind frei und sie sind bewusst aus der Familie ausgeschieden.

Aber der neue Roman der Nobelpreisträgerin Toni Morrison ist viel mehr als nur ein Frauenroman oder die Erzählung eines Sklavenschicksals. Es ist die voluminöse und farbige Geschichte eines ganzen Volkes, der dritte Teil der Trilogie, die mit „Jazz“ und „Menschenkind“ ihren Anfang nahm. Aber während die Autorin in „Menschenkind“ ein privates Bild von drei Frauen und ihren Träumen malte, geht es in „Paradies“ um einen ganzen Ort und mehrere Generationen, es geht um Frauen, ihre Männer und Kinder. Wieder schreibt Morrison von Frauen, aber sie klagt nicht an, sondern sie erklärt in einer furiosen, eigenwilligen Sprache: warum eine Mutter ihre Kinder ersticken lässt, warum eine andere Frau trinkt, und warum die dritte nicht mehr spricht.

Die Erklärungen setzen sich aus persönlichen Erinnerungen der Protagonistinnen und kollektivem Ruby-Wissen zusammen, so dass man langsam immer mehr versteht und sieht. Als ob Morrison ihre LeserInnen nach und nach zu MitwisserInnen erzieht. Wie eine geheimnisvolle Lehrerin, die die SchülerInnen vorsichtig tiefer in ihren Stoff eintauchen lässt, Stück für Stück, dabei stets abwägend, ob sie schon reif dafür sind. Oder wie eine klingende Ballade, mit vielen traurigen und seltsamen Zeilen und einem Refrain, so entfaltet sich „Paradies“ vor dem Leser, bis er mitsummt und neugierig auf die nächste Strophe wartet.

Die Strophen haben die Namen der Protagonistinnen: „Seneca“, Divine“, „Lone“, „Patricia“, und trotzdem sind sie nicht einfach nach Einzelschicksalen aufgeteilte Erzählungen, sondern elegant ineinander verwobene Handlungsstränge. Und wie sich die Geschichte über mehrere Generationen aufbaut, zusammengehalten vom Stamm des Baumes, dem Misstrauen der Einwohner von Ruby gegenüber den Frauen im Kloster, so baut sich auch das Verständnis für die Menschen auf, für Opfer, Täter, Mitläufer, Ankläger, Verteidiger. Morrisons Geschichte ist zutiefst human, vor allem da, wo sie von Menschenverachtung und Beleidigungen spricht, sie ist ein Epos ohne Verse, mit besonnenen Worten, die nach der Lektüre trotz aller anfänglicher Unergründlichkeit vertraut erscheinen.

Jenni Zylka

Toni Morrison: „Paradies“. Rowohlt 1999. 494 Seiten. 45 DM

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