Klimatologe über Glut-Sommer: "Modelle sind nur Modelle"
Der sommerlichste Sommer seit Menschengedenken: Ist das jetzt wirklich die Klimakatastrophe zum Anfassen? Ein Interview mit einem Klimatologen.
taz: Herr Müller-Westermeier, die US-Klimabehörde hat am vergangenen Freitag neue Klimadaten vorgelegt, wonach das erste Halbjahr 2010 das wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen vor 130 Jahren war. Wie ernst ist die Lage?
Gerhard Müller-Westermeier: Richtig dramatisch ist sie nicht, noch nicht. Schließlich sprechen wir nur über einen Temperaturanstieg im Zehntel-Grad-Bereich, um rund 0,7 Grad Celsius. In Deutschland lagen die Temperaturen im ersten Halbjahr sogar 0,4 Grad unter dem Schnitt, weil unser letzter Winter ungewöhnlich kalt war und Schwankungen dazugehören - die Gefahr unterschätzen sollten wir trotzdem nicht. Die Mitteltemperaturen eines relativ kleinen Gebiets wie Deutschland sind für den globalen Trend nicht maßgebend. 70 Prozent der Erde sind mit Wasser bedeckt, sodass die Temperatur über den Meeren weitgehend das weltweite Mittel bestimmt.
Für Laien ist die Sache mit dem Klimawandel immer ziemlich unübersichtlich, weil sich Dramatisierungen und Relativierungen abwechseln.
Der 62 Jahre alte Klimatologe arbeitet in der Abteilung Klimaüberwachung beim Deutschen Wetterdienst in Offenbach.
Man kann natürlich immer auch eine relativ kurze Zeitreihe zugrunde legen, um die Entwicklung herunterzuspielen, oder darauf verweisen, dass das insgesamt wärmste Jahr 1998 war, also vor auch schon zwölf Jahren. Das ist aber kein Gegenbeweis, denn neben der globalen Erwärmung gibt es natürlich noch andere Ursachen, beispielsweise die Sonnenaktivität, hochreichende Vulkanausbrüche und interne Schwankungen im klimatischen System, die den Temperaturtrend modifizieren und zeitweise überdecken können.
Wie spekulativ sind die Annahmen zum Klimawandel?
Spekulation sollte es natürlich nie sein. Aber da Klimaforscher ihren Berechnungen immer Annahmen zugrunde legen müssen, etwa wie es mit der Emission von Treibhausgasen weitergeht oder wie die Bevölkerung sich entwickelt, sind Fehler nicht auszuschließen. Und Modelle sind eben auch nur Modelle, also stark vereinfacht. Unsere Großrechner brauchen etwa drei Stunden, um ein Wettervorhersagemodell für zehn Tage zu berechnen. Wenn Sie das auf 100 Jahre anlegen, müssen Sie das Modell zwangsläufig vereinfachen, um es bewältigbar zu machen.
Was wird sich in Deutschland ändern?
Wenn die Temperaturen bis zum Ende dieses Jahrhunderts, wie erwartet wird, um drei Grad steigen werden, haben wir hier Werte wie heute in Norditalien. Das wird manchen sogar freuen, etwa die Bauern, die dann vielleicht sogar zwei Ernten pro Jahr einfahren können, vorausgesetzt natürlich, sie haben zuvor genügend Regenwasser gesammelt, um über die immer dürreren Sommer zu kommen. Das sollte aber in Deutschland kein größeres Problem darstellen, weil die Niederschläge im Winter hier zunehmen werden. Es wird aber nicht nur insgesamt mehr runterkommen, sondern auch mehr auf einmal, sodass Umwetterschäden im Sommer größer werden können.
Wird der Klimawandel ausreichend öffentlich diskutiert?
Diskutiert wird viel, aber gemessen daran, dass jeder das Problem kennt, passiert eindeutig zu wenig. Die Politik interessiert sich ja eher für den kurzfristigen Erfolg - der Klimaschutz aber braucht einen langen Atem. Zur Illustration: Selbst wenn wir heute aufhören würden, CO2 auszustoßen, dürfte die Temperatur bis zum Ende des Jahrhunderts um 1 Grad steigen. Langfristig ginge das dann natürlich auch wieder runter - aber das würde mehrere Jahrhunderte dauern.
Sie warnen also davor, den Klimawandel auf die leichte Schulter zu nehmen.
Auf jeden Fall. Auch wenn die Horrorszenarien vom Anstieg des Meeresspiegels um 70 Meter - wenn alles Eis abschmelzen würde - wohl nicht eintreten werden, muss man sich doch damit beschäftigen, was schon ein Anstieg von vier, fünf Metern bedeuten würde - auch wenn wir alle das nicht mehr erleben werden, denn bis zum Ende des Jahrhunderts wird der Anstieg des Meeresspiegels einen Meter kaum überschreiten.
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