: Kleinstauflagen im Kühlschrank
Guillaume Siffert lernte Filmschnitt und montiert jetzt lieber reale Begegnungen. Der junge Elsässer liebt obskure Musik und zerrissene T-Shirts. In Neukölln betreibt er den kleinen Plattenladen „Le Petit Mignon“ und lädt zu Kunst und Konzerten
VON VERONIKA WALLNER
Eigentlich ist Guillaume Siffert gelernter Filmcutter. Frisch nach Berlin gezogen stand der 26-jährige Elsässer vor der Wahl, entweder von einem Kontakte knüpfenden Praktikum ins nächste zu hüpfen oder sich etwas anderes zu überlegen, wovon er leben kann.
Berlin gefällt ihm – viel mehr als Paris, wo er zuletzt wohnte: „In Paris geht alles immer schnell-schnell. Dagegen ist Berlin wie ein Dorf, es ist so schön ruhig hier.“ Als er eines Tages mit seinen langen Dreadlocks durch Neukölln radelte, entdeckte er ein leerstehendes Ladenlokal in der Sanderstraße und beschloss, hier seinen heimlichen Traum zu verwirklichen: einen eigenen Laden, der eine Mischung aus Galerie, Plattenladen und Veranstaltungsort ist, in dem Leute in Ruhe Musik hören, Comics lesen und ein bisschen rumhängen können – „verweilen“ nennt Guillaume das.
Von außen eher unscheinbar ist „Le Petit Mignon“ („Der kleine Süße“) im Inneren eine hochinteressante Welt für sich. Das fängt schon bei der Ladendekoration an: Die Wände ziert ein verästeltes Muster aus abgerissener Tapete und darunter zum Vorschein kommendem Gemäuer. Überall stehen alte Kühlschränke, die Guillaume zu Regalen umfunktioniert hat. „Mein ehemaliger Hinterhof war ein Kühlschrankfriedhof“, erzählt er und dass er kein Geld für die nötigen Möbel hatte. Also nahm er die Kühlschränke, malte sie an – einen ziert der Schriftzug „Fuck Basquiat!“– und stellte sie in seinen neuen Drei-Zimmer-Laden.
Manchmal hängen die Schranktüren angefüllt mit handgefertigten Kleinigkeiten an der Wand. „Ja, der ganze Laden ist voll von merkwürdigem Kram“, stellt er um sich blickend fest und grinst. Guillaume verkauft Musik, Comics und Poster, die ausschließlich in Kleinstauflagen erscheinen. Es gibt CDs im Visitenkartenformat, Underground-Comics, Kunstbücher, die in verkleinerten handbemalten Umzugskartons verpackt sind, Schallplatten in zusammengetackerten Teerfußbodenbelag-Hüllen.
Vieles importiert er aus Frankreich und vor allem aus Japan. „Neue japanische Musik ist superextrem, das mag ich. Glatt ist langweilig“, erklärt er. „Generell verkaufe ich aber Musik der Gegenwart“, sagt er und verbessert sich: „Obskure Musik der Gegenwart“. Damit meint er – neben neuer japanischer Musik – Noise, düstere Field-Recordings, Postrock, Posthardcore und elektronische Musik, die „nicht nur aus Beats besteht“.
Im Hintergrund läuft gerade die neue Platte des belgischen Gabba-Entertainers Candie Hank alias Patric Catani. „So etwas finde ich toll. Musik muss für mich etwas Besonderes haben, etwas Kindliches oder etwas Blödes. Hier gibt es nur Sachen, die ich mir gerne anhöre.“ Er strahlt dabei übers ganze Gesicht.
Guillaume liebt seinen Job. Auch wenn er mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat: „Es ist zum Beispiel nicht so einfach, sich in der deutschen Bürokratie zurechtzufinden.“ Für seine Umsatzsteuervorerklärung brauchte er zwei Tage. Aber er hat sich gut darauf vorbereitet: „Auch wenn das konservativ klingt: Ich habe langfristig geplant, damit ich über das erste Jahr komme.“ So gerät er mit seinen Ausgaben derzeit nie ins Minus, sondern tendiert „immer um null herum“. Das liegt auch daran, dass er die meisten Sachen auf Kommission in sein Angebot aufnehmen kann: „Im Gegensatz zu großen Vertrieben haben die meisten Microlabel-Betreiber großes Vertrauen“, sagt er.
Jeden Tag außer sonntags kann man Guillaume in seinem Laden besuchen. Dann sieht man auch die zerrissenen und wild geknoteten T-Shirts, mit denen er seinen Schreibtisch in der Mitte des Ladens dekoriert hat und die er manchmal trägt. „Alles fing damit an, dass ein paar Freunde und ich sehr betrunken in einem blöden Club waren. Irgendwann haben wir uns alle gegenseitig die T-Shirts zerrissen und uns aneinandergeknotet. Als Menschen-T-Shirt-Haufen wurden wir dann rausgeworfen.“ Auch eine Kunstperformance haben die Shirts bereits hinter sich. „Einmal kam sogar eine sehr reich aussehende Frau vorbei und wollte eines kaufen“, erzählt er grinsend. Doch er will sie behalten, schließlich sind sie ein Teil von „Le Petit Mignon“ und eine wunderliche Sache mehr in diesem Geschäft.
Le Petit Mignon, Sanderstraße 4, 12047 Berlin. Mo.–Fr. 13–20 Uhr, Sa. 14–19 Uhr. Programm unter www.lepetitmignon.de. Heute ab 21 Uhr Ausstellung von Snadro, Konzert von Red Ink und So like Dorian