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Archiv-Artikel

nebensachen aus moskau Klassenkampf auf Rädern oder immer Vorfahrt für Reiche

Ein kilometerlanger Autokorso schob sich durch Moskau. Hunderte Automobilisten protestierten gegen die Willkür im russischen Straßenverkehr. Auch in Dutzenden anderen Städten schlossen sich aufgebrachte Fahrer dem Protest an. Anlass war die Verurteilung Oleg Schtscherbinskys zu vier Jahren Haft. Der Bahnangestellte war in einen Unfall verwickelt, bei dem der Gouverneur der Region Altai starb.

Schtscherbinsky wollte von einer Landstraße nach links abbiegen, als hinter ihm der Mercedes 500 des Gouverneurs mit etwa 200 Sachen heranbrauste. Beim Versuch, den wartenden Abbieger links zu überholen, streifte die Karosse den Honda und kam von der Straße ab. Das Gericht urteilte: Schuld sei der Eisenbahner, der dem mächtigsten Mann der Republik Vorfahrt hätte gewähren müssen. Mehr als anhalten hätte er aber nicht können.

Mit dem Slogan „Heute Schtscherbinsky und morgen du“ demonstrierten die Autofahrer gegen die ungeschriebenen Vorrechte von Politikern, Amtsschimmeln und Neureichen, die sich mit Blaulicht und Sirenengeheul Vorfahrt erpressen. Auf der Gegenfahrbahn Staus ausweichen, rote Ampeln missachten und Normalbürger überfallartig von der Straße drängen. Qua Amt und Geld glauben sie, unsterblich zu sein. In dieser Annahme bestärkt sie die Verkehrspolizei GAI, die sich hütet, diese Kaste zur Rechenschaft zu ziehen.

Gottgleich wähnen sich die Staatsdiener. Erwischt es einen dennoch, muss ein Paria dafür herhalten. „Schluss mit den heißen Gerten (Blaulicht) und Sirenen“, lautet denn auch eine Forderung der Mobilisten. Der Handel mit Blaulicht und Sondernummern ist aber ein einträgliches Geschäft für die Bürokraten.

Der einfache Verkehrsteilnehmer steht auf der untersten Stufe der Hierarchie. Gerät er in die Fänge eines GAIschniks, steht meist fest, dass er sich etwas zuschulden hat kommen lassen. Auch wenn dem nicht so ist, greift der Bürger reflexartig zum Portemonnaie. Mängel finden sich immer. Das Aufsetzen eines „Protokolls“, die Einzahlung der Strafe auf einer Bank und die anschließende Suche nach dem vorübergehend eingezogenen Führerschein lassen es ökonomischer erscheinen, den Tribut gleich vor Ort zu entrichten.

Die Ordnungshüter sind bei der Pflichtausübung erfinderisch und tun dies mit Vorliebe auch an unübersichtlichen Stellen. Beim Abbiegen am späten Abend war die Fahrbahn in der Kurve links und rechts von kontrollierten Autos blockiert. Beim Durchschlängeln streifte der Wagen einen anderen parkenden. Dessen Stoßstange wies einen Kratzer auf. Nur konnte der nicht von diesem Manöver stammen. Der GAIschnik war sich seiner Sache sicher: „Drei Stunden dürfte es mindestens auf dem Revier dauern.“ Von 100 auf 80 Dollar ließ er sich runterhandeln.

Neulich war dann der Wagen weg. Der Abschnittspolizist wollte nichts gesehen haben und verwies auf die Nebenstraßen, in die abgeschleppte Autos entsorgt werden. Nur stand der Wagen nicht im Halteverbot. Nach anderthalb Stunden vergeblicher Suche gab ein anderer Polizist dann den goldenen Tipp. Die Sicherheitsabteilung Speztrassa, die Straßen bei Staatsbesuchen räumt, war zuständig. Die Information half dem Abschnittspolizisten weiter. Grund des Umsetzens war hoher Besuch in der französischen Botschaft. Nur fehlte dazu am Morgen jeglicher Hinweis. KLAUS-HELGE DONATH