Kinofilm „Manchester by the Sea“: Ein Mann, der sich selbst bestraft
Kenneth Lonergans Film ist einerseits ein Depri-Drama. Stellenweise kommt die Geschichte aber fast komödiantisch daher.
„Stimmung“ verspricht dieses Jahr der wichtigste Faktor zu werden, wenn es um die Einschätzung von Oscar-Chancen geht. Wegen seiner luftigen Leichtigkeit gilt das Musical „La La Land“ als Favorit. Der Hunger nach Optimismus ist angesichts der düsteren Weltlage in Hollywood ausgeprägt: Konkurrenz erwächst „La La Land“ auf den letzten Metern im erfolgreich angelaufenen und geradezu altmodisch optimistischen Crowd-Pleaser „Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen“, in dem verspätet, aber um so hemmungsloser die Mitarbeit schwarzer Mathematikerinnen an den frühen Raumfahrterfolgen der Nasa gefeiert wird.
Im Vergleich dazu steht Kenneth Lonergans „Manchester by the Sea“ mit seiner Geschichte über einen traumatisierten Familienvater als hoffnungsloser „Depri-Film“ da. Und weil „Manchester by the Sea“ zwar im provinziellen Amerika unter „kleinen Leuten“ spielt, dabei aber keinerlei Aufklärung über Trump-Wähler oder dergleichen anbietet, kommt ihm noch nicht mal die Ehre zu, als Problem- oder Krisenfilm zu gelten, an dem sich politische Diskussionen anschließen ließen. Im Gegenteil, „Manchester“ ist ein so privater Film, dass er fast eskapistisch wirkt.
Casey Affleck spielt Lee Chandler, den die erste Szene des Films vage als Teil einer Familie vorstellt: An Bord eines an der Küste Neu-Englands typischen Trawlers sieht man Lee zusammen mit seinem Bruder Joe (Kyle Chandler) und seinem kleinen Neffen Patrick. Die eigentliche Handlung des Films setzt ein paar Jahre später ein. Lee, den Affleck in einer Großleistung wunderbar minimalistisch und magnetisch bei aller Verschlossenheit gibt, lebt inzwischen in völliger Isolation irgendwo bei Boston und arbeitet als Hausmeister.
Die handwerkliche Seite seines Jobs, tropfende Wasserhähne, Rohrbrüche und andere Kleinigkeiten, hat er bestens im Griff. Was ihn sichtlich überfordert, ist der Umgang mit den Kunden. Wobei es vor allem die besonders Freundlichen zu sein scheinen, die ihn anstrengen.
Das Einzimmerkellerapartment, das er bewohnt, gleicht einer Gefängniszelle. Noch bevor man sieht, wie er in einer Bar einen Streit provoziert, als lege er es darauf an, verprügelt zu werden, hat man begriffen, dass dieser Mann vor allem sich selbst bestraft. Wofür – das ist die offene Frage, die der Film erst später beantwortet.
Plötzlich sorgeberechtigt
Zunächst reißt eine schlechte Nachricht Lee aus seinem willentlich öden Alltag: Sein Bruder Joe ist seiner lange währenden Herzkrankheit erlegen und hat ihn, Lee, testamentarisch zum Sorgeberechtigten für seinen nun 16-jährigen Sohn Patrick (Lucas Hedges) bestimmt. Lee macht sich also auf den Weg in seine Heimatstadt Manchester by the Sea, um erstens die Beerdigung zu organisieren und zweitens nach seinem Neffen zu schauen.
Von Anfang an sieht er sich nicht in der Lage, dem Wunsch seines Bruders nachzukommen, obwohl sich das provisorische Zusammenleben mit Patrick bestens gestaltet. Gezielt eingesetzte Rückblenden in das Leben, das Lee einst hier geführt hat, lassen seine Motive nach und nach einsehbar erscheinen.
Es herrscht Winter in „Manchester by the Sea“, und die von Jody Lee Lipes geführte Kamera macht mit ihrem Schweifen über die von Wind und Wetter gezeichneten und ausgebleichten Fassaden das Schneidende der Temperaturen sichtbar. Was wie Naturalismus aussieht, hat aber auch eine metaphorische Funktion: Winter ist gewissermaßen die Jahreszeit in der Seele von Casey Afflecks Lee, der wie in Erstarrung sein Leben führt und dabei zugleich wie tiefgefroren ein Geheimnis bewahrt.
Und mit derselben Sorgfalt, mit der die Kameraarbeit durch realistische Wetterdarstellung mit einem Seelenzustand harmoniert, setzt Kenneth Lonergan auch den Schnitt seines Films ein: Was er dem Zuschauer wann über seine Figuren enthüllt, gehorcht weniger einer Spannungslogik als vielmehr einem präzis erdachten psychologischen Rhythmus. Die „Wahrheit“ über Lee ist kein Schockmoment mit maximalem dramatischem Effekt, sondern trifft den Zuschauer genau dann, als er am empfindsamsten dafür ist.
Depri-Film mit Humor
Das mag tatsächlich nach einem freudlosen und düsteren Film klingen, kommt zwischendurch aber fast komödiantisch daher. Als wortkarges, zu Missgeschicken neigendes Onkel-Neffen-Paar sind Casey Affleck und Lucas Hedges zugleich ein wunderbares Komikerduo mit trockenem Witz und herrlich selbstverächtlicher Ironie. Im Humor zeigt sich auch eine weitere große Stärke des Lonergan’schen Kinos: Die Figuren dürfen alle mehrere Facetten haben. So jongliert der um seinen Vater trauernde Teenager mit zwei Freundinnen, die nichts voneinander wissen dürfen, was zu slapstickhaften Situationen führt.
Der Komik angesichts des verhandelten Trauer- und Schmerzthemas eignet dabei geradezu etwas „Hinterhältiges“; sie liefert weniger den klassischen „comic relief“ als vielmehr die Fortsetzung der tiefen existenziellen Erschütterung, um die es in „Manchester by the Sea“ geht. Neben seiner überlegenen psychologischen Präzision ist es der Humor, der den Film vor dem eigenen Etikett des „Depri-Films“ rettet – und ihm doch noch Oscar-Chancen lässt.
„Manchester by the Sea“. Regie: Kenneth Lonergan. Mit Casey Affleck, Lucas Hedges u. a. USA 2016, 138 Min.
„Manchester by the Sea“ ist erst der dritte Film von Kenneth Lonergan, und doch hat er sich damit als einer der ganz großen unter den amerikanischen Regisseuren etabliert. Als Drehbuchautor für die Mafia-Therapeuten-Komödie „Analyze This“ bekannt geworden, hatte Lonergan mit seinem Debütfilm „You Can Count on Me“ im Jahr 2000 einen kleinen Independent-Hit landen können. Mit seinem Fokus auf den Zusammenhalt eines früh verwaisten Geschwisterpaars, gespielt von Laura Linney und Mark Ruffalo, bewegte sich Lonergan schon damals etwas abseits der üblichen Themen.
Emotionale Wirkung
Noch weiter ab von den Problem-Film-Vorgaben auch des Indie-Spektrums kam er mit seinem nächsten Projekt „Margaret“, an dem er Jahre drehte und das ihn fast seine Karriere gekostet hätte. In „Margaret“ steht die von Anna Paquin gespielte Lisa, ein Teenager, im Zentrum, was an sich noch nichts Ungewöhnliches ist.
Als Ganzes aber ist „Margaret“ die vollkommene Negation des gefälligen und geläufigen „Coming of age“-Genres. Ein Film über das New Yorker Stadtleben genauso wie über eine urbane Schauspielerfamilie, nimmt Lonergan seine Teenagerhauptfigur auf eine Weise ernst, wie man das sonst selten erlebt: in all ihrer Hilflosigkeit, allzu hitzigen Urteilsbereitschaft und verzweifelten Suche nach Orientierung.
Lang währende Auseinandersetzungen mit der Produktionsfirma, an denen Lonergan durch Nichtbeachtung von Terminen einen eigenen Anteil hat, führten dazu, dass „Margaret“ nur eine begrenzte Auswertung in Kino erlebte – ins deutsche Kino gelangte er nie. Der 187-minütige „Director’s Cut“ kam schließlich nur auf DVD heraus.
Gegenüber dem dreistündigen „Margaret“ nehmen sich die 137 Minuten von „Manchester by the Sea“ fast knapp aus, in ihrer emotionalen Wirkung aber gleichen sich die Filme: Wo sonst die Kinofiktion Auf- und Erlösung herbeizwingt, besteht Lonergan darauf, seinen Figuren ihre Konflikte zu lassen. So endet „Manchester“ nicht mit einem Lernprozess für seine Hauptfigur, sondern mit einem für den Zuschauer: Ein Schmerz, wie der, den Lee zu bewältigen hat, lässt sich nicht lindern, trösten oder wegnehmen – man kann ihn nur respektieren.
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