Kinetik-Künstler stellt in Hamburg aus: Die Welt aus den Angeln heben
Der Kinetik-Künstler Attila Csörgö schält Orangen, Würfel und Städte. Nur um festzustellen, dass sich aus Papier keine Kugel formen lässt. Zu erleben ist das nun in einer listigen, philosophisch-physikalischen Ausstellung in Hamburg.
Hamburg taz | Archimedes soll ja seinerzeit die Welt aus den Angeln gehoben haben. Gehoben im reinsten Wortsinn: Im 3. Jahrhundert v. Chr. erfand der griechische Mathematiker angeblich riesige Greifarme, die des Feindes Schiffe in Stücke rissen.
"Gib mir einen Punkt, auf dem ich stehen kann, und ich werde dir die Welt aus den Angeln heben", soll er gesagt haben - eine Sentenz, die sich später als "Archimedischer Punkt" ins kollektive Gedächtnis einbrannte.
Gemeint war wohl: der Punkt, von dem aus sich Welt steuern lässt beziehungsweise ihre Geometrie. Mit dieser beschäftigt sich der ungarische Kinetik-Künstler Attila Csörgö. Unter dem Motto "Der archimedische Punkt" bespielt er derzeit ein Stockwerk in der Hamburger Galerie der Gegenwart.
Allzu weit treibt er es mit dem angeblich kriegerischen Vermächtnis des Archimedes nicht: Filigran und poetisch sind die Konstruktionen, die er dort aufgebaut hat, und anfassen darf man nichts - so gerne man das auch täte. Aber zusehen kann man, wie sich ein aus feinen Holzstöckchen gefertigter Quader aus den Angeln hebt.
Sich sachte bewegt, eine Winzigkeit verschiebt und irgendwann zu einem Tetraeder wird. Das sitzt dann eine Weile da, ein wenig wie erschöpft. Ehe es sich erneut auf die Reise begibt - oder soll man sagen: zum Tanz? Und wieder Quader wird.
Das alles sieht ein bisschen aus wie damals im Mathematikunterricht, als die Lehrer geometrische Formen zu demonstrieren suchten. Und es ist doch mehr: ein komplexes Gespinst aus Fäden und sorgsam vorausberechneten, nie zu üppigen Bewegungen, die den Übergang von einer Form zur anderen erlauben. Eine sich wiederholende Bewegung, die niemals ausbricht aus dem programmierten Muster.
Eine scheinbar nie ermüdende Wiederkehr des immer Gleichen. Wie kleine Roboter sind die Hölzchen dabei auf ein Brett gesetzt, das mit Schraubzwingen, Gewichten und allerlei Provisorien bestückt ist, als sei es soeben erst gebastelt worden. Ein Labor, "work in progress".
Ganz sachte hat Csörgö dabei die Grenze zur Kunst überschritten. Beziehungsweise zum Theater: Natürlich lässt sich die "Werkbank" auch als Bühne deuten, auf der kleine Wesen Kleists "Marionettentheater" zu verkörpern scheinen.
Ist Bewusstheit Voraussetzung oder Hindernis für Anmut, hatte sich Kleist ja seinerzeit gefragt. Attila Csörgö lässt es offen, wirft en passant die Frage nach der Anmut des Roboters auf, der als künstlerisch Handelnder kaum beforscht ist, diesen sich eifrig faltenden Hölzchen aber recht nahe kommt.
Auch wenn Csörgö das so ausdrücklich nicht sagt: Die großen Fragen stellen sich doch noch, nach dem Schöpfer der Welt, der buchstäblich die Fäden hält, der alles bewegt, auch uns. Ist eigentlich zwangsläufig, was da an Formen entsteht und in welcher Richtung es sich bewegt? Oder ist es eine von unendlich vielen Möglichkeiten?
Fragen, die auch die "geschälten" Objekte Csörgös beherrschen. Dabei ist die Ur-Idee sehr schlicht: Csörgö hat einfach nur eine Orange geschält, die Schale auf den Tisch gelegt und sich gewundert, wie unähnlich die zweidimensionale Schale dem Objekt sieht, das sie zuvor umhüllt hat.
Lässt sich Volumen überhaupt in Fläche übertragen, als Fläche abbilden - das Globus-Landkarten-Problem mit seinen ewigen Unschärfen -, und was müsste man hierfür tun, hat sich Csörgö gefragt. Und angefangen Würfel zu schälen und wieder zusammenzufalten.
Auch eine komplexere Schachtel, "Stadt" genannt, lässt sich schälen, allerdings muss die "Schale" durchnummeriert werden, damit man sie später zurückfalten kann. Gerade hier - im Durchnummerieren - liegt der philosophische Clou: Es ist keineswegs folgerichtig, dass aus einer Fläche eine bestimmte Form entsteht.
Csörgö gefällt es, diese Inkonsequenz zu demonstrieren und, schließlich, das Unmögliche zu versuchen. Zum Beispiel aus Papier eine Kugel zu falten. Und siehe: Es gelingt nicht. Zwar lässt sich eine Kugel "schälen".
Auf keine Weise aber lässt sich aus gefaltetem, gebogenem Papier eine ebenmäßige Kugelform erzeugen, allenfalls kugelartige Objekte, wie die Installation "How to construct an Orange" zeigt. Aber eben nur ungefähr: An irgendeiner Stelle haben sie immer Dellen. Sie wollen nicht ganz rund sein.
Csörgö begnügt sich nicht damit, das festzustellen. Er bringt seine Erkenntnisse auch in künstlerische, spielerische, humorvolle Form: Neun solcher imperfekter "Kugeln" hat er in Hamburg über neun Boden-Ventilatoren gebracht. Und sie tanzen: mal schnell, mal langsam, mal stockend - je nach individueller Form.
Und so hat er ein physikalisches Phänomen in ästhetische Form umgewandelt, an der sich auch erfreuen kann, wer das Experiment weder versteht noch schätzt. Dessen Hintergründe können - ebenso wie die einander spiegelnden Spiegel, die in mysteriöse Dimensionen weisen - gern des Künstlers Geheimnis bleiben.
Weder die Kunst hat Csörgö mit seinen Experimenten neu erfunden noch die Welt, vielmehr eine Prise Kinetische Kunst, ein Quentchen Dekonstruktivismus und einen Hauch Trompe loeil in seine Werke gegeben, ohne sich aber ideologisch festzulegen.
Eben hierin liegt das Wohltuende dieser Ausstellung: dass sie Philosophie, Physik und Spiel zugleich ist. Und einem der Künstler, während man selbst gerade staunt über scheinbar Banales, listig über die Schulter schaut.
bis 15. Mai, Hamburg, Kunsthalle
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