Kindesmissbrauch an der Odenwaldschule: Der Schänder wird sichtbar
Jürgen Dehmers hat ein Buch über seine Erlebnisse an der Odenwaldschule geschrieben. Mit klarer Sprache entlarvt er darin die Reformpädagogen.
"Der Herr Direktor entlädt sich." Was für ein Satz. Ekelerregend. Und doch nur einer von vielen. Knorzelige Männerfüße. Turnschuhe gegen Geschlechtsverkehr. Spermatücher. Erzwungene Wichsrituale. Chronisch besoffene Vierzehnjährige. In den Tod getriebene Jugendliche. Gewaltsam aufgepresste Kinderkiefer, zwischen die sich gierige Männerzungen bohren. Eine Vaselinedose mit Kotspuren im Schlafzimmer Gerold Beckers.
So steht es im Buch von Jürgen Dehmers, "Wie laut soll ich denn noch schreien?" Die klare Sprache ist eine der große Stärken des Buches.
Dabei ist Dehmers Sprache im besten Sinne des Wortes normal. Sie bezeichnet Dinge als das, was sie sind. Der Verzicht auf rhetorische Weichzeichner macht die Taten der Schänder sichtbar. Wie soll schließlich Empathie mit den Opfern entstehen, wenn nur von "Missbrauch" die Rede ist, also einer eventuell verunglückten Form des "Gebrauchs"? Wie sollen Zusammenhänge erkennbar sein, wenn sie von abstrakten Termini begleitet werden, die nichts anderes sind als verbale Nebelgranaten?
Pädophilie selbst ist solch ein unerträgliches Wort. Als könne man ernsthaft sagen, dass ein Pädophiler Kindern zugetan sei, so wie ein Frankophiler eben Frankreich liebt. Es gehört zu den großen Perversionen des allgemeinen Sprachkonsenses, dass mit diesem Begriff die Freundschaft zu Kindern ausgerechnet denen zugesprochen wird, die sie zerstören.
Vertuscher ficken die Sprache
Jürgen Dehmers ist der wichtigste Aufklärer im Odenwald. Ohne sein jahrelanges beharrliches und auch wütendes Drängen wäre der brutale Missbrauch an der Superschule nie ans Licht gekommen. Als Dehmers, der im richtigen Leben anders heißt, bei einem Klassentreffen 1997 seinem Ausbeuter und Vergewaltiger Gerold Becker wiederbegegnet, läuft das Fass über. Er beginnt Briefe zu schreiben, die Öffentlichkeit zu informieren, Verbündete zu suchen.
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Der Kampf dauerte lange, beschrieben ist er nun - genau wie Dehmers' furchtbare Erlebnisse - in seinem Buch "Wie laut soll ich denn noch schreien?" (Hamburg, Rowohlt 19,95 Euro), das vergangenes Jahr von 20 Verlagen abgelehnt wurde. Unser Rezensent fragt: "Wie kann man so ein Buch ablehnen?" Dehmers hat in sein Leben gefunden; heute arbeitet er im pädagogischen Bereich und kämpft um Entschädigung für die Opfer. Der Verein "Glasbrechen - für die Betroffenen sexualisierter Gewalt auf der Odenwaldschule" geht von 400 bis 500 Opfern aus.
Wer Kinder als Sexualobjekte betrachtet, liebt sie nicht. Manchmal sind Sachverhalte tatsächlich so einfach. Und so, wie Gerold Becker, Wolfgang Held und andere, teils noch unbenannte Täter Kinder systematisch vergewaltigten und quälten, so wird die Sprache von den Vertuschern und Relativierern, nein, nicht missbraucht, sondern gefickt. Klartext hilft. Dehmers spricht ihn. In rationaler Leidenschaft, innerlich erregt und doch äußerlich gelassen.
Mittlerweile dürfte Jürgen Dehmers einer der bekanntesten Unbekannten Deutschlands sein. Sein Name ist ein Pseudonym - und gleichzeitig Synonym für die Aufklärungsbemühungen rund um die OSO, die renommierte Odenwaldschule Ober-Hambach, das liberale Vorzeigeinternat des besseren Deutschlands. Gemeinsam mit Thorsten Wiest begann Dehmers bereits im November 1999 öffentlich Licht in die systematischen Verbrechen zu bringen, die jahrzehntelang ein fester Bestandteil des Leuchtturms der Reformpädagogik waren.
Doch das Licht, entzündet mit Hilfe der Frankfurter Rundschau, wurde wie von einem schwarzen Loch geschluckt: Jürgen Dehmers zeigt in seinem Buch detailliert und unter Nennung von Namen, wie die Täter feixten, die Verantwortlichen taktierten und die Medien wegschauten. Und wer bis zu diesem Zeitpunkt denkt, der Zorn über die Taten Gerold Beckers und seiner pädosexuellen Kamarilla könne nicht noch größer werden, wird beim Lesen eines Besseren belehrt.
Angst essen Seele auf - was ist eine Schule wert, die aus reinem Selbsterhaltungsflehen die Täter vor ihren Opfern schützt? Dehmers zitiert aus dem Artikel der Frankfurter Rundschau, in dem der Nachfolger Beckers im Amt des Schuldirektors, Wolfgang Harder, erklärt, dass der Missbrauch von Schülern ein Stück Vergangenheit sei. Dass er, Harder, keine Veranlassung gesehen habe, an die Öffentlichkeit zu gehen. Und dass schließlich alle Menschen auch von Herrn Beckers Wirken profitiert hätten. Es ist eines Schuldirektors schlicht unwürdig, so zu argumentieren. Denn es gibt nichts Gutes im Schlechten: Darin gleichen die Verdienste Beckers den Autobahnen Hitlers.
Reformpädagoge auf dem Ledersessel
Ganz nebenbei bereitet Jürgen Dehmers allen Mutmaßungen über die mögliche Mitwisserschaft Hartmut von Hentigs, des Lebenspartners Gerold Beckers, ein abruptes Ende. Er benötigt nicht mehr als einen kurzen Absatz, um das Werk des Gottes der deutschen Reformpädagogik in den Staub zu treten: "Ich hatte Hentig als Kind kennen gelernt.
Er saß bei einem Besuch Beckers in dessen Wohnzimmer in einem der flachen Ledersessel, von denen gut ein Dutzend in Beckers Wohnzimmer herumstanden, und Becker stand seitlich neben ihm. Ich war kurz durch Beckers Wohnung gegangen, vielleicht um mir ein Brot zu schmieren oder um etwas zu trinken zu holen, als Hentig mich mit einem durchdringenden, fast gierigen Blick ansah. Er sah zu mir, er sah zu Becker, wieder zu mir und sagte: Das ist also einer von diesen Knaben!"
Wie kann es im erweiterten Kontext solcher Sätze möglich sein, dass die Reformpädagogik bis zum heutigen Tag keine klare Position in der Causa Becker und von Hentig bezogen hat? Es ist dieses Zögern, mit dem sich die Heilslehre ihre Sargnägel selbst schmiedet. Sie entlarvt sich durch die lautstark postulierte, aber wohl doch nur vorgebliche Nähe zum Kind, in dem eitle Köpfe wie von Hentig offenbar nie etwas anderes gesehen haben als unbedeutende Erfüllungsgehilfen ihres gesellschaftlichen Aufstiegs. Werde, der du bist - aber pass bloß auf, dass nicht zu viele Reformpädagogen in der Nähe sind.
Über die politischen und gesellschaftlichen Sekundanten des organisierten Kinderschändens ließe sich noch einiges mehr sagen, als Jürgen Dehmers es in seinem Buch tut. Ist nicht zum Beispiel Hellmut Becker, der erste Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, jener gefeierte "Bildungs-Becker", einer der Hauptverantwortlichen für die schrecklichen Vergehen? Warum machte er, im Wissen um den versuchten Missbrauch des eigenen Patensohns durch Gerold Becker, eben jenen im Jahr 1972 dennoch zum Direktor der Odenwaldschule? In welcher Beziehung stand er zu Hartmut von Hentig und Gerold Becker?
Welchen Einfluss auf das Schulwesen haben diese Anhänger Stefan Georges ausgeübt, die sich ihre erbärmliche Brücke des pädagogischen Eros zimmerten und Platon am Nasenring durch die Manege zogen, um verbotenes Land zu betreten? Man wünscht sich eine Interpretation dieser Zusammenhänge von Jürgen Dehmers und ist doch gleichzeitig dankbar, dass der Autor der Lust am Spekulieren nicht nachgibt und konsequent das selbst Erlebte und die Fakten sein literarisches Geländer sein lässt.
Pädosexualität ist unpolitisch
Wie Jürgen Dehmers schreibt, war die Welle, die die Odenwaldschule im letzten Jahr erfasste, gewaltig. Und er stellt bewusst die Verbindung zu den zahlreichen Missbrauchsskandalen an katholischen Schulen wie dem Berliner Canisius-Kolleg her, die für die öffentliche Wahrnehmung und die gesellschaftliche Diskussion wie ein Katalysator wirkten.
Dieser Punkt ist besonders wichtig: Denn, ob roter taz-Mitbegründer oder schwarzer Priester - Pädosexualität ist unpolitisch. Kinderficker haben kein Parteibuch. Jedes System ist ihnen recht, um darin die Ziele ihres Triebes aufzustöbern. Wer das verkennt oder zerredet, erschwert den Kampf gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern.
Links diskreditiert rechts aufgrund repressiver Strukturen, Rechts diskreditiert links aufgrund grenzenloser Libertinage. Die Folge ist ein engstirniges Patt. Und die Opfer sind erneut die Opfer. Dabei wird verleugnet, was schon jedes Kind weiß: Ein Hundehaufen riecht nicht besser, wenn ein zweiter Hund danebenkackt. Divide et impera - seit jeher nützt die Politisierung der Pädosexualität nur den Tätern.
Ein starkes und beständig wiederkehrendes Motiv im Buch von Jürgen Dehmers ist der Triathlon, dem er sich verschrieben hat. Dieser Extremsport ist eine gute Metapher für das gesamte Buch. So braucht die Schilderung seines Lebens bis zum Besuch der Odenwaldschule nicht mehr als eine Handvoll Seiten und kommt wie ein kurzes Warm-up daher. Dehmers läuft los, erst ungestüm, dann mit Bedacht, er muss seine Kräfte einteilen. Er kämpft gegen die Ignoranz an, gegen seine Traumata, gegen seinen Alkoholismus, der ihm die Flucht aus der Unerträglichkeit war.
Nach 25 Jahren am Ziel
Gelegentlich stoßen sperrige Sätze wie "Nach Scheiße kommt scheißer!" und einige Wiederholungen auf. Sie wirken seltsam ungelenk und passen doch ins Bild, wirken wie ein Stolpern während des Laufs. Man ahnt den Lektor hinterhereilen und japsen, doch es bleibt keine Zeit, stehen zu bleiben, dieses Rennen muss endlich beendet werden.
Denn Dehmers läuft einen der härtesten Triathlons, den je ein Mensch absolviert hat, und er erreicht nach 25 Jahren endlich sein Ziel. Er hat, gemeinsam mit seinem Team, einen brutalen und kräfteverzehrenden Lauf gewonnen. Diese Höchstleistung und den Durchhaltewillen Dehmers' können wir gar nicht ermessen. Er ist um sein Leben gerannt.
Auch die anderen Opfer gewinnen durch dieses Buch. Ebenso die Wahrheit. Gerold Becker und Wolfgang Held haben das Rennen nicht überlebt. Verloren haben all jene, die glauben, man könne ungestraft Kinder vergewaltigen oder aber die Vorfälle totschweigen. Hartmut von Hentig hat sich praktischerweise selbst disqualifiziert. Die Odenwaldschule muss beißen, wenn sie nicht auf der Strecke bleiben will. Und die Reformpädagogik irrt orientierungslos durchs Unterholz.
Der Titel des Buches lautet: Wie laut soll ich denn noch schreien? Wer diesen Ruf von Jürgen Dehmers nicht hören will, muss sich fragen lassen, warum er freien Willens zu Verbrechern unter eine stinkende Decke kriecht, unter die er seine eigenen Kinder niemals krabbeln lassen würde.
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