Kinderbücher: Kids lieben anspruchsvolle Bilder
Kinder lernen an guten Bilderbüchern den genauen Blick, das bessere Textverständnis - und die Kunst der Interpretation.
Berlin, Potsdamer Platz. Es ist kurz vor zehn. Schüler der 3b der Halensee-Grundschule in Wilmersdorf geben am Kulturforum vor dem Eingang der Gemäldegalerie ein kleines Stück. Einige hüpfen die Stufen auf und ab, andere klettern auf die Steinrampe. "Hallo Erdmännchen, meine Untertanen! Du da mit den blonden Haaren, komm her!", ruft ein Mädchen. Das blonde Erdmännchen verdreht die Augen. Es ist die Klassenlehrerin, Heike Bahr.
Heike Bahr weiß, wovon das Mädchen spricht. In diesem Jahr hat sie es geschafft, eine der begehrtesten Veranstaltungen Berlins zu buchen - das Kinder- und Jugendprogramm des Internationalen Literaturfestivals Berlin. Heute beschäftigt sich Nikolaus Heidelbach mit den Kindern, der preisgekrönte Bilderbuchkünstler und Schöpfer von "Königin Gisela." Darin strandet ein Mädchen auf einer Insel und nutzt die Gastfreundschaft der ansässigen Erdmännchen aus. Sie macht sie zu Untertanen und sich zur Königin. Die Schüler kennen das Buch. Sie waren dabei, als Heidelbach am Vortag im Haus der Berliner Festspiele las.
"Kinder, habt nicht zu viel Angst vor den Wächtern!", ist Heidelbachs erster Rat, nachdem er die Kinder in der Gemäldegalerie unter all den Bildern begrüßt hat. Berührungsängste scheinen die Kinder keine zu haben, obwohl erst eines von ihnen hier war. Erstaunlich genau schätzen sie die Menge und das Alter der Gemälde. Und sie wissen, was sie nicht dürfen: Bilder anfassen. "Da wären lauter Händeabdrücke drauf und man müsste die Bilder neu streichen", so eine Schülerin.
Zuvor hatte Heidelbach die Museumspädagoginnen geärgert. Er spielte selbst das große Kind. "Da müssen die Kinder ganz nah rangehen, sonst sehen die nichts", sagte er auf seinem Gang an den Bildern vorbei. Und wenn die Wärterinnen nervös wurden, legte er nach: "Keine Angst, meine Damen, ich werde hier nicht den Anarchisten spielen. Ich lehne mich nur an, wenn ich müde bin." Er nähert sich gefährlich der Leinwand und lacht.
Mit dieser Freude am Subversiven erfindet Nikolaus Heidelbach auch seine Bücher. "Königin Gisela" beginnt mit einem doppelseitigen Panorama: Der Vater fährt im roten Auto mit der Tochter fort. Aus einem Fenster winkt die Mutter, ein Baby auf dem Arm, hinter der Gardine sind die Schatten dreier Geschwister auszumachen. Im Bildraum schweift der Blick in die Weiten einer Landschaft. Im Vordergrund steht artig ein Lattenzaun mit einen kleinen Schild: "Parken verboten!" Je länger man das Bild betrachtet, desto mehr Vermutungen lassen sich anstellen über das Mädchen, seine Familie und die Geschichte, die einen erwartet.
Was Kleinkinder oft noch überfordert, stellt für Kinder zwischen 5 und 10 Jahren eine faszinierende Herausforderung dar. Durch anspruchsvolle Bilderbücher können sie etwas lernen - nicht zuletzt, dass es sich lohnt, ganz genau hinzuschauen.
Mittlerweile ist das auch wissenschaftlich belegt. Die Erziehungswissenschaftlerinnen Karin Richter, Monika Plath und Leonore Jahn von der Universität Erfurth haben in Modellprojekten die Reaktion von Grundschülern getestet. Sie haben dabei feststellen können, dass die Kinder künstlerisch anspruchsvolle Illustrationen bevorzugen. Sie haben bereits im Grundschulalter eine ästhetische Kompetenz, mit der sie gründlich in Frage stellen, was Erwachsene für eine kindgemäße Darstellung halten. Außerdem beobachten die Wissenschaftlerinnen, dass bebilderte Texte den Leseanreiz erhöhen und ein tieferes Textverständnis anregen.
Beim Vorlesen eines Bilderbuches nimmt ein Kind Text und Bild gleichzeitig wahr, ähnlich wie beim Sehen eines Filmes. Der Unterschied liegt darin, dass man beim feststehenden Bild verweilen kann, um weitere, oft wesentliche Informationen über das Geschehen zu entdecken. Dies unterstützt nicht nur das Lesenlernen, sondern schult auch, das Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst zu verstehen, überhaupt zu interpretieren - wichtige Voraussetzungen, um sich in einer Mediengesellschaft zurechtzufinden.
Lehrerin Heike Barth weiß das. Für viele Eltern ist diese Erkenntnis hingegen Neuland. Es herrscht der Glaube vor, Bilderbücher seien nur für Kleinkinder. Zudem hört man über anspruchsvolle Bilderbücher oft: "Das ist doch zu schwierig für Kinder!" Gegen dieses defizitären Wissen kämpfen engagierte Verlage - denn sie wollen gute Bücher für Kinder produzieren, aber sie müssen sie an Erwachsene verkaufen. Bilderbücher gehen schlecht, anspruchsvolle noch schlechter. Sie sind teuer in der Produktion und erreichen oft nur eine Auflage. Was glitzert, ist im Vorteil, und was das Zeug zur Markenbildung hat, noch mehr. Nur haben Kinder wenig davon. Denn nicht alle Bilderbücher haben denselben Bildungswert.
Künstler wie Heidelbach fordern eine Interpretationsleistung oder verführen zum Weiterspinnen. Andere laden zum Selbermachen ein. Wie der russische Bilderbuchkünstler Vladimir Radunsky, der in den USA lebt. Sein Bilderbuch "Le grand bazar" (Paris 2006) ist denn auch ganz auf das Bemalen, Zerlegen und Bekleben zugeschnitten. Hat man das Buch durchgearbeitet, ist es eigentlich nicht mehr vorhanden. Vom Internationalen Literaturfestival wurde Radunsky 2007 nach Berlin eingeladen, um mit zwei Schulklassen Collagen zu gestalten. Zuerst lernen die Kinder sein Bilderbuch "The Mighty Asparagus" (San Diego/New York 2004) kennen, in dem eines Tages ein riesiger Spargel direkt vor dem königlichen Palast aus dem Boden wächst. Wie es dem König und seinem Gefolge gelingt, das wundersame Gemüse auszureißen, erzählt der Künstler mit Bildern, die von Gemälden der italienischen Renaissance inspiriert sind.
Kein Wunder, dass auch hier der Weg in die Gemäldegalerie führt, dorthin, wo eine Museumspädagogin den Schülern eine Einführung in die italienische Kunst des 15. Jahrhunderts gibt. Radunsky ermuntert im hellen Werkraum des Museums die Schüler, farbkopierte Renaissancegemälde zu zerschneiden. Eigentlich müsste man sich dafür bei den großen Meistern entschuldigen, so Radunsky, aber man könne so viel besser verstehen, was und wie sie gemalt haben. "Oh, ich trau mich nicht, der den Kopf abzuschneiden!", zögern die Kinder. Andere malen beherzt Osterhasen und Ghettoblaster in ein Gemälde, das die Auferstehung Christi zeigt. Kinder lernen so, wie Bilder der Alten Meister aufgebaut sind.
Nicht nur den Kindern, auch den Künstlern geben diese Begegnungen viel. Sabine Büchner hat für ihre Bilderbuchidee das Troisdorfer Bilderbuchstipendium gewonnen. Das Resultat: "Für immer SIEBEN", erschienen 2007 bei Carlsen. Drei Monate wohnte Büchner im einzigartigen Bilderbuchmuseum auf Schloss Wissem nahe Köln. Hier traf sie auf Kindergartengruppen und Grundschulklassen. "Kinder haben einen unmittelbaren Blick auf Figuren und Geschichten. Da merkt man schnell, wo was nicht funktioniert. Außerdem freuen sie sich offen und sagen, was ihnen gefällt." Oft erfuhren die Kinder von Büchner zum ersten Mal, wie Bücher hergestellt werden: "Viele Dinge wussten sie noch gar nicht, etwa wie die Figuren ins Buch kommen, wenn es doch so viele Bücher gibt. Sie dachten, man zeichnet sie in jedes Buch rein!"
Bilderbuchillustrationen haben in den vergangenen Jahren eine zunehmende Würdigung in Museen und Ausstellungen erfahren. Dass diese Kunst eine für Kinder ist, schmälert weder ihren künstlerischen Wert noch überfordert sie ihre Zielgruppe. Dass es gerade im Bereich der Kunstwissenschaften kaum Forschungen zum Bilderbuch gibt, ist zu bedauern. Dabei tritt die Verbindung mancher Künstler zu ihren großen Kollegen früherer Jahrhunderte ganz offen zu Tage. Radunskys "Asparagus"-Illustrationen orientieren sich an Renaissancegemälden, und auch Heidelbachs Detailschärfe ist sichtbar an den alten Meistern geschult. Gennadij Spirin, Roberto Innocenti, Tomi Ungerer - die Liste der von den Großen der Kunstgeschichte inspirierten Illustratoren ließe sich lange fortsetzen.
Zum Abschluss seiner kleinen, launigen und wunderbar kundigen Führung kommt Nikolaus Heidelbach mit den Kindern noch einmal zum "Siegreichen Amor" zurück. "Caravaggio zeigt uns, dass die Liebe alles besiegt, die Musik, den Krieg, alles. Seine Waffe ist ein Pfeil, das war das Schnellste, was es damals gab, oder?" "Eine Pistole," antwortet ein Schüler. "Ja, heute würde man ihn sicher mit einer Pistole malen. Tja, Amor als Sieger und mit wunderschönen Fußnägeln! Kinder, das wars."
Während die Kinder dem Künstler applaudieren, grinst Heidelbach spitzbübisch. Wahrscheinlich weiß er um den Clou auf Caravaggios Bild: Denn Amor triumphiert über die Allegorien aller Künste, nur die der bildenden nicht. Als die vollendetste Kunst ist sie selbst Siegerin über die Sinne des Betrachters. Ob dieser Sieg auch der Bilderbuchkunst vergönnt sein wird?
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