Kinder zurück in den Wald? : Nur heile Seelen sehen die Natur

Der amerikanische Umweltaktivist Richard Louv will "unseren Kindern die Natur zurückgeben" - um sie von Hyperaktivität und Computersucht zu heilen. Und die Städter?

Nix neues: Kinder brauchen Dreck, Gebüsch und Spielraum. Bild: blindguard / photocase.com

Richard Louv hat ein viel beachtetes Buch geschrieben, dessen Hauptthese lautet: Kinder brauchen Natur, um von den Krankheiten der Zivilisation geheilt zu werden. Die Ursache ihrer Hyperaktivität, Computersucht, Bereitschaft zur Gewalt usw. sei die Ferne zu Natur und Wald. Er plädiert für eine unabdingbare Nähe zur Natur, denn diese sei genauso wichtig für die Kinder wie eine gesunde Ernährung.

Louv zitiert unzählige amerikanische Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Naturschutzbewegungen. Er berichtet über Menschen, die als Kind wegen ihrer tiefen Naturverbundenheit frei von all jenen Verhaltensstörungen waren, die man bei heutigen Kindern diagnostiziert. Hätten die heutigen Kinder das Privileg, in der freien Natur zu spielen, auf Bäume zu klettern, die spirituelle und therapeutische Wirkung der Wälder zu erleben, so will uns Louv sagen, dann wären sie ausgeglichener. Sie wären kognitiv und emotional fitter, kommunikationsbereiter, ihre Seelen würden Transzendenzerfahrungen machen, ja, potenziell könnten sie sogar Gott über die Natur begegnen. Sie würden eine Art kindlicher Spiritualität entfalten. Nicht selten mit Pathos versucht Richard Louv, uns die Bedeutung einer tiefen Beziehung zur Natur zu erklären. Kinder litten unter einem "Natur-Defizit-Syndrom", unter Biophobie.

Diese Gedanken sind interessant, aber nicht neu. Schon in den 60er Jahren beklagte Alexander Mitscherlich (1908-1982) "Die Unwirtlichkeit unserer Städte". Kinder wüchsen auf asphaltierten Straßen und Höfen auf, obwohl sie "Dreck, Gebüsche, Spielraum" brauchten. In den Stadtwüsten verkomme der Mensch zu einem bindungsunfähigen "augenblicksbezogenen Triebwesen".

Ja, es stimmt, dass heute viele Kinder immer neurotischer werden. Doch auffälliges Verhalten ist stets auch ein Zeichen von Orientierungslosigkeit. Schön wäre es, wenn wir diese Kinder beruhigen und glücklicher machen könnten, indem wir in Kindergärten und Schulen die Natur in den Mittelpunkt stellten. Das Verhalten der Kinder jedoch ist nur ein Spiegel. In ihm wird die Welt der Erwachsenen als Reflexion wahrnehmbar. In der seelischen Verwahrlosung vieler Jugendlichen manifestiert sich das Scheitern der Erwachsenen, Kindern eine Wirklichkeit zu bieten, in der sie sich heimisch fühlen könnten.

Bedürfnis nach Nähe

Es gibt viele Kinder, die beim Eintritt in den Kindergarten mangelhafte soziale Kompetenzen aufweisen. Sie verhalten sich auffällig unruhig und unausgeglichen. Sie haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Zuwendung und körperlicher Nähe - und sie besitzen eine nur defizitäre Sprachkompetenz. Familie als Ort der kindlichen Entwicklung mit Vorbildern, Bezugspersonen und Identitätsmöglichkeiten ist nicht mehr selbstverständlich. Insofern sind Kinder heute die Verlierer der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Sie sind, bei aller hysterischen Kindvergötterung, die wirklichen Außenseiter der Gesellschaft.

In seinem in den 80er Jahren erschienenen Buch "Das Verschwinden der Kindheit" analysiert der Medienwissenschaftler Neil Postman (1931-2003) die Folgen der zunehmenden Verbreitung von elektronischen Medien. Kinder sind - so seine These - heute konfrontiert mit der ganzen Wirklichkeit der Erwachsenenwelt. Sie werden viel zu früh zu total überforderten "kleinen Erwachsenen". Die Gesellschaft schreckt nicht davor zurück, technische Errungenschaften bedenkenlos gegen das Wahrnehmungspotenzial des kindlichen Gehirns zu richten. Angesichts einer digitalen Überflutung der Kinder mit zum Teil schwer fassbaren Bildern sind Postmans Warnungen heute aktueller denn je.

Können wir all dies durch mehr (gelenkte) Naturerfahrung für Kinder erträglicher machen? Kann die Begegnung mit der Natur hierbei eine heilende bzw. kompensatorische Rolle spielen? Dies ist, anders als Louv suggeriert, eine offene Frage.

Wir, die Generation der heute über 50-Jährigen, bekamen wenig von der Welt der Erwachsenen mit. Es gab noch keine Möglichkeit, virtuelle Welten aufzusuchen - und in sie zu fliehen. Wir waren angewiesen auf soziale Kontakte und Kommunikation mit anderen Kindern, um unseren Alltag zu gestalten. Hatten wir dafür wirklich mehr Ahnung über die Natur? Meine vielen Freunde und ich jedenfalls nicht. Es hat Spaß gemacht, im Park oder im Wald zu sein. Mehr war es nicht. Viele von uns suchten später die Natur auf, um ästhetische Erfahrungen zu machen.

Abenteuerspielplätze, Kletterwände und andere verplante Flächen haben heute wilde Spielräume ersetzt, die Kinder selbst gestalten und erfinden könnten. Diese Möglichkeiten sind ihnen nun weitgehend verschlossen. Stattdessen versuchen Bücher wie das vorliegende, Anregungen und Ratschläge zu geben, wie man diesem Mangel abhelfen könnte. Das ist gut so. Wir müssen uns nur bewusst sein, dass wir mit viel Kosten und großem Aufwand etwas wiederherzustellen versuchen, das wir wider besseres Wissen begradigt, zubetoniert und zerstört haben. Wir müssen uns auch vor Augen halten, dass die Natur ein Freiraum bleiben sollte, in dem wir die Kinder ohne aufdringliche Didaktisierung zunächst einmal ihre eigenen Erfahrung machen lassen sollten.

Beim Lesen des Buchs von Richard Louv musste ich mich selbst fragen, was wir eigentlich unter Naturerfahrung verstehen. Naturerfahrung ist die Bewusstwerdung eines unbegreiflichen Netzwerks. Das Merkmal dieses Netzwerks zeichnet sich durch Vielfalt, unaufhaltsame Veränderung und die wechselseitige Abhängigkeit von unüberschaubaren Ökogemeinschaften aus; und diese Abhängigkeit manifestiert sich in unzählbaren Mustern.

Naturerfahrung ist das Staunen über die raffinierte Architektur eines Spinnennetzes, aber auch das Erlebnis, wie ausweglos ein Insekt ist, wenn es in das Netzwerk hineinfliegt. Naturerfahrung ist das Erleben einer Krötenwanderung, die Verpuppung einer Raupe. Naturerfahrung ist die Wahrnehmung von Wassertropfen, wie sie nach dem Regen als leuchtende Perlen auf Blättern sitzen. Naturerfahrung ist das Gewahrwerden des Zusammenspiels zwischen Bienen und Blumen. Naturerfahrung ist das körperliche Erleben von physikalischen Kräften. Diese Vielfalt der Naturphänomene ist überall erfahrbar, auch in den Metropolen der Welt. Wie sie noch eindringlicher erfahrbar gemacht werden könnte, kann man an vielen Beispielen bei Louv lernen.

Immer, wenn ich mit Kindern im Wald bin, erlebe ich, dass sie Natur zunächst als einen Zuwachs an Bewegungsfreiheit erfahren. Sie schauen nicht, sie rennen. Erst nachdem sie sich ausgetobt haben, fangen sie an zu buddeln, herumliegende Stöcke und manchmal auch Steine zu sammeln. Erst wenn ich sie auffordere, größere Steine hochzuheben oder in das Innere von modernden, pilzbefallenen Baumstämmen hineinzusehen, sind sie fasziniert von dem darin sichtbaren Mikrokosmos: Laufkäfer, Asseln, Tausendfüßler, Ameisen, Milben und Spinnen, eine ganze Schar verschiedener Lebewesen findet hier einen Lebensraum.

Aufmerksamkeit für Moos

Ich muss die Aufmerksamkeit der Kinder auf Hölzer lenken, die Algenbezüge tragen, ein Leckerbissen für die Schnecken. Ich muss die Kinder einladen, abgefallene Baumblätter abzuheben, worauf die laubfressenden Insekten sitzen. Ich versuche dabei, nur Anstöße zu geben. Die Fragen kommen nach und nach. Aber es ist von Bedeutung, dass sich solche Anlässe wiederholen. Denn nur dann können Kinder einen Lernprozess durchlaufen, der sie befähigt, sukzessive Bewusstheit ihrer Welt zu erlangen.

Es ergibt wenig Sinn, den Wald zu mythologisieren. Wir sind geneigt, unsere inneren Sehnsüchte auf den Wald zu projizieren, wenn wir dem Wald Attribute wie "heilend", "Trost spendend" oder gar "spiritualisierend" zuschreiben. Manche sprechen ja sogar von der göttlichen Natur. Was wir dabei unterschlagen: Die Natur ist nicht heilig, sie ist auch brutal. In der Natur spielt sich unaufhörlich das Drama des Fressens und Gefressenwerdens ab.

Es ist verantwortungslos und hat mit Naturerfahrung nichts gemein, wenn wir Kindern sogenannte Umwelterziehung angedeihen lassen - Pädagogen verstehen darunter vornehmlich den Aspekt der Gefährdung von Natur. Es ist aber verhängnisvoll, wenn man mit Kindern und Jugendlichen zum ersten Mal über die Natur spricht - und dabei ausschließlich ihre Zerstörung in den Mittelpunkt stellt.

Ich habe an einer Schule gearbeitet, die von Wald umgeben war. Ich kannte keinen Pädagogen dort, der mit Kindern in den Wald gegangen wäre, um die Geheimnisse zu erforschen. Als in den 70er Jahren aber das Thema "Umweltzerstörung" aufkam, scheuten sich die Pädagogen nicht einmal im Religionsunterricht, von saurem Regen und Waldsterben zu dozieren. Es ist ein Verdienst von Richard Louv, dass er uns diesen Missstand eindringlich bewusst macht.

In der Summe ist mir das Buch von Louv aber zu spekulativ. Was unseren Kindern fehlt, ist ja nicht allein die Naturerfahrung, sondern gerade die Verlässlichkeit der Beziehungen. Viele Kinder sind ausgehungert nach Zuwendung. Sie müssen erst das innere Gleichgewicht erlangen, bevor sie ihre Augen für die Natur als einen Ort des Staunens und der Beruhigung öffnen können. Weil dies in einen langen Lernprozess integriert ist, können wir, Eltern wie Pädagogen, nicht früh genug damit beginnen.

Richard Louv. "Das letzte Kind im Wald? Geben wir unseren Kindern die Natur zurück!". Beltz Verlag, Weinheim 2011, 19,95 Euro

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