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Kinder mit BehinderungenIntegrationswüste Schule

Nach der Integration in der Grundschule drohen Kindern mit Behinderungen in der Sekundarschule oft Abstellgleis und Aussonderung.

Sehbehindertes Kind in Lübeck am Bildschirm-Lesegerät. Bild: dpa

Der Anteil der Kinder mit Behinderungen und Beeinträchtigungen, die gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern lernen, ist in der Grundschule doppelt so hoch wie in der Sekundarstufe I. Die Diskrepanz zwischen den Integrationsquoten zeigt sich auch in Nordrhein-Westfalen. 21 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf lernen in der Grundschule gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern. In der nachfolgenden Sekundarstufe schrumpft dieser Anteil auf nur noch 9 Prozent.

Das Düsseldorfer Schulministerium reagierte vorsichtig auf den Sachverhalt. "Das muss nicht mit mangelnder Integrationsbereitschaft zusammenhängen, sondern kann auch darin begründet sein, dass Eltern nach der Grundschule durchaus bewusst eine Förderschule für ihr Kind wünschen", sagte ein Sprecher von Schulministerin Barbara Sommer (CDU) der taz. Allerding gibt es keine Statistik oder Studie, mit der das Wahlverhalten beim Übergang der Integrationskinder von der Primar- zur Sekundarstufe erklärt werden könnte.

Nordrhein-Westfalen ist allerdings kein Einzelfall. Die Grünen in Niedersachsen haben eine parlamentarischen Anfrage zur "Entwicklung der Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Niedersachsen" an die Landesregierung gestellt. Ihre Schlussfolgerung: Die Schulbürokratie interessiere sich nicht für die Bildungsverläufe der Integrationskinder. Sie sorge nicht für bedarfsgerechte integrative Anschlussmöglichkeiten und lasse die "unversorgten" Kinder in den sogenannten Förderschulen verschwinden.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft "Gemeinsam Leben und Lernen" bestätigt die Unkenntnis der Schulbehörden. Sie sammelt als Elternbewegung die leidvollen Erfahrungen betroffener Eltern, welche die Schulaufsicht abweist oder ihre Kinder wegberät - weil es keine Integrationsplätze an den weiterführenden Schulen gibt. Teilweise wird per Losverfahren entschieden, wer einen der raren Plätze bekommen kann. Eva Thoms vom Elternverein "mittendrin e. V." nennt die Erklärung des Düsseldorfer Ministeriums daher auch eine Provokation. Zwar kennt sie Fälle, bei denen Eltern nach der Grundschule mit ihrem Kind zur Förderschule wechseln. "Aber wie kann man von Wahl sprechen, wenn Eltern sich schweren Herzens gezwungen sehen, ihr Kind mit Behinderungen doch in die Förderschule zu schicken, weil diese besser ausgestattet ist?"

Der Mangel an integrativen Plätzen erklärt sich nicht nur mit dem Finanzvorbehalt für den Gemeinsamen Unterricht (GU), der noch in den meisten Bundesländern verhindernd wirkt. Ein weiteres Hindernis ist die vorherrschende Mentalität in den weiterführenden öffentlichen Schulen. Sie sehen sich nicht zuständig für Kinder, die zieldifferent lernen. Und gegen ihren Willen oder ihre Zustimmung traut sich kein Schulträger, die Einrichtung einer Integrationsklasse zu erzwingen.

Die Stadt Herford etwa hat seit längerem zwar einen Ratsbeschluss für die Fortsetzung des gemeinsamen Lernens nach der Grundschule, konnte ihn aber bislang nicht realisieren, weil sich alle weiterführenden Schulen am Ort taub stellten. Mit Informationsveranstaltungen über die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen versuchen Kommunen, Verwaltung und die örtliche Behindertenbeauftragte gemeinsam zum Ziel zu kommen.

Verweigerer von lernzieldifferenter Integration sind vor allem Gymnasien, gefolgt von Realschulen. Unter Berücksichtigung aller Schularten, die es in den 16 Bundesländern in der Sekundarstufe I gibt, errechnet sich nach den statistischen Angaben der KMK für das Schuljahr 2006/07 für das Gymnasium eine bundesweite Beteiligungsquote an der Integration von 4 Prozent und für die Realschule von 5 Prozent. In Nordrhein-Westfalen liegt die Beteiligung des Gymnasiums sogar nur bei 1,8 Prozent, während die Realschule mit 5, 4 Prozent vertreten ist. Dagegen entwickeln sich Hauptschulen zum Hauptträger der Integration. Für das Schuljahr 2006/07 betrug bundesweit ihr Anteil an allen Integrationsschulen 47 Prozent, in NRW sind es aktuell sogar 73 Prozent. Immer mehr Hauptschulen entdecken ihr Herz für behinderte Kinder, um sich institutionell vor der drohenden Schulschließung angesichts stark rückläufiger Schülerzahlen zu erhalten. Die Düsseldorfer Schulministerien stört es nicht, dass Kinder, die wegen ihrer Behinderung von gesellschaftlicher Stigmatisierung und Benachteiligung bedroht sind, mit Schülern lernen, die selbst am Rande der Gesellschaft stehen und auch keinen Vorteil aus dem gemeinsamen Lernen ziehen können. Sie möchten wohl diese Art der unverantwortlichen Zusammenführung für Inklusion im Sinne der UN-Konvention verkaufen.

Diese Entwicklung ist zynisch und muss beendet werden - das sagen dagegen nicht nur Elterninitiativen. Neben dem individuellen Rechtsanspruch auf GU fordern zahlreiche Verbände wie die Lebenshilfe und der Sozialverband Deutschland, die sich für inklusive Bildung in Deutschland einsetzen, dass das Gymnasium und die Realschule zur Aufnahme von Schülern mit Behinderung gesetzlich verpflichtet werden müssen. Unverzüglich brauchen die Lehrerinnen und Lehrer eine Qualifizierung für einen lernzieldifferenten, individualisierten Unterricht und eine angemessene sonderpädagogische Unterstützung.

Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft verweist darauf, dass die integrierten Gesamtschulen wegen ihres integrativen Charakters die besten Voraussetzungen für den Gemeinsamen Unterricht mitbringen. Das sollte den Landesregierungen zu denken geben, die derzeit mit besonderem ideologischem Eifer Gesamtschulen in ihrer Arbeit behindern und neue Gesamtschulgründungen blockieren, wie in NRW und in Niedersachsen.

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8 Kommentare

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  • AD
    Alexander Drewes, LL.M.

    @Anna Lühse (nettes Wortspiel, übrigens): Das ist bestimmt sehr interessant, aber: Was hat das mit dem hier behandelten Thema zu tun?

  • AD
    Alexander Drewes, LL.M.

    @Hilda Flint: Das Kostenargument ist - mit Verlaub - völlig scheinheilig, wird dabei doch unterstellt, dass derartige Kosten ggw. gar nicht anfielen.

    Natürlich tun sie das! In jeder segregierenden Einrichtung werden Sie die entsprechenden technischen Kosten vorhalten müssen. Daneben unterhalten wir uns nach wie vor - erstaunlicherweise - überhaupt nicht über die Kosten segregativer Beschulung, und das wohl nur deswegen, weil sie außer unterschiedlichen "Töpfen" bezahlt werden. So sind die Transportkosten, spezifische Kosten für technische und sonstige beeinträchtigungsbedingte Aufwendungen und solche für den sonderpädagogischen Förderunterricht Kostenbestandteile der Sozialhilfeträger, die normalen Kosten für Personal (also auch solche für sog. Schulhelfer; das ist Personal für Kinder, die keinen sonderpädagogischen Förderbedarf haben; zu denken ist dabei an körperlich und sinnesbeeinträchtigte Schüler) und sächliche und räumliche Ausstattung jedoch Kosten des Schulträgers bzw. der Kommune.

    Man darf auch nicht vergessen, dass es in einer sich zunehmend auf Bildung (also nicht dem Pauken schieren Wissens) aufbauenden Gesellschaft nicht länger hinnehmbar ist, dass über 80% aller beeinträchtigten Schüler nicht einmal einen Hauptschulabschluss nachweisen können (und das nicht deswegen, weil diese Klientel dümmer wäre, sondern weil die sonderpädagogischen Voraussetzungen in segregierenden Einrichtungen einen derart miserablen Standard aufweisen, dass es den Schülern verunmöglicht wird, auch nur einen Minimalabschluss zu erreichen).

    Bildung ist daneben ein Menschenrecht und es ist nicht einmal ansatzweise einsichtig, das einem Teil der Kinder nicht zu gewähren (das ist dann nämlich die Behinderung der Kinder), nur weil man vor vierzig Jahren einmal gemeint hat, es sei eine gute Idee, Kinder in Sondereinrichtungen zu beschulen.

    Es gibt ein langjähriges - gewolltes - Kooperieren zwischen den Einrichtungsträgern und der Politik, das zu einen Stillstand im Bereich der Ambulantisierung von Dienstleistungen geführt hat.

  • AL
    Anna Luehse

    Noch ein Tabuthema, bisher gerne zwischen den "ExpertInnen" Böhmer (CDU), Schmidt (SPD) und vd Leyen (CDU) weitergereicht:

     

    "Immer mehr (!!) Kinder im Berliner Stadtteil Neukölln kommen mit angeborenen Behinderungen zur Welt. Als Grund wird Inzest vermutet. Die Ehe zwischen Verwandten unter türkischen und arabischen Migranten ist weit verbreitet und ein Tabuthema. ..."

    http://www.welt.de/vermischtes/article732888/

  • HF
    Hilda Flint

    Zu den Tabus im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Unterricht gehört die Frage nach den Kosten:

    Was kostet es, einen Integrationsplatz personell und technisch so auszustatten, dass die Integration gelingt?

    Und sind wir als Gesellschaft bereit, diesen Betrag aufzubringen? Oder ist zu befürchten, dass gemeinsamer Unterricht ohne die notwendigen finanziellen Mittel auf dem Papier die UN-Konvention erfüllt, aber letztlich zu Lasten aller beteiligten Kinder geht?

  • G
    grafinger

    Der Unbegriff "lernzieldifferente Integration" weist auf den Grund der Integrationsskepsis hin.

    Die Binnendifferenzierung wird dadurch noch breiter.

    Ja, ich weis, "die EU" hat beschlossen ....

    Aber die Umsetzung ist immer noch Länder- und nicht Bundessache. Waren die Bundesländer denn am Integrationsbeschluss überhaupt beteiligt?

  • AD
    Alexander Drewes, LL.M.

    Auch Sprache kann stigmatisieren!

    Zunächst einmal muss man der taz ja schon fast dankbar sein, dass sie sich als nahezu einziges Print-Medium der schulischen Inklusion annimmt.

    Allerdings unterlaufen Brigitte Schumann gleich zwei sprachlich eklatante Schnitzer. Das muss (ihr wird) ihr nicht einmal bewusst, wie auch, wird doch selbst in der Behindertenselbsthilfebewerung heute wieder vermehrt z.B. von Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderung gesprochen.

    Richtiger, weil erheblich näher an dem Behinderungsbegriff der insoweit relevanten WHO orientiert, wäre es jedoch, von behinderten Menschen zu sprechen. Warum das?

    Gehe ich von einem "Menschen mit Behinderung" aus, stelle ich das Stigma der Beeinträchtigung durch eine Schädigung von Körper, Geist oder Seele in den Vordergrund, entlaste also die Gesellschaft insofern, als ich die "Behinderung" als persönliches Schicksal klassifiziere. Gehe ich hingegen vom "behinderten Menschen" aus (wie Fr. Schumann umgekehrt und - völlig richtiger Weise - ja auch von "nicht behinderten Kindern" schreibt), wird bereits in der Wortwahl deutlich, dass es die Umstände hinsichtlich Barrieren und Benachteiligungen sind, die eine normale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einschränken oder unmöglich machen.

    Weiterhin ist der Terminus der Inklusion (die Bundesregierung warum sie "inclusion" mit "Integration" hat übersetzen lassen) statt dem der Integration der nicht nur weitaus prägnantere, er trifft den Sachverhalt auch wesentlich besser. Wenn ich eine inklusive Beschulung haben will, bedeutet das konsequent, dass ich körperlich, geistig oder seelisch beeinträchtigte Kinder - sei es nun durch bloße Schulhefer (daran ist bei köerperlich oder sinneseingeschränkten Kindern zu denken) oder durch sonderpädagogischen Förderbedarf (daran wird man insbesondere bei seelischen, psychischen oder intellektuellen Beeinträchtigungen zu denken haben) - im "normalen" Schulumfeld unterrichten muss (auf die - vom BVerfG vor zwölf Jahren festgelegten - Einschränkungen hinsichtlich der personellen, sächlichen und finanziellen Ausstattung der einzelnen Schulen gehe ich jetzt nicht ein, da man sich durchaus Gedanken darüber machen kann, ob eine solche Einschränkung nach der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention überhaupt noch rechtlich zulässig ist). Förderzentren oder Förderschulen könnten also nur noch - dann als integraitves Modell (weil ja überhaupt beschult wird) dann nur noch für eine absolute Minderheit der beeinträchtigten Kinder greifen, nämlich dann, wenn es dem ausdrücklichen Elternwunsch entspricht. Eine - allerdings nicht repräsentative - kürzlich stattgehabte Umfrage, die von Fr. Prof. Gisela Hermes in Niedersachsen durchgeführt ist, hat bei 30 befragten selbst beeinträchtigten Eltern gerade noch zwei Eltern herausfiltern können, die ihr Kind lieber in einer Fördereinrichtung sähen.

    Ich arbeite ggw. wissenschaftlich an der Implementation der UN-Behindertenrechtskonvention auf deutsches Recht. Wenn Sie folglich weitere Fragen zu dem Thema haben (oder auch gerne Artikel zu den Themenkomplexen Behindertenrecht und -politik bzw. Sozialrecht wünschen), die auch die Sicht der selbst Betroffenen darstellen (ich bin selber multipel beeinträchtigt), können Sie sich gerne an mich wenden.

  • W
    wobbel

    Das kann doch auch nichts werden, wenn sogar nichtbehinderte Kinder nach der vierten Klasse auf die verschiedenen Schulformen sortiert werden. Wenn die schlechten Schüler nicht aufs Gymnasium dürfen, warum dann die behinderten - so sieht es zumindest aus der Sicht des Gymnasiums aus? In gewisser Weise unterscheiden sich Hauptschüler ja auch nur dadurch von Gymnasiasten, dass sie langsamer lernen Hauptschule und Gymnasium sind sozusagen ja auch "zieldifferent"- Meiner Meinung nach kann das Problem nur mit einer integrativen Gesamtschule mit entsprechendem Personal und Ausstattung behoben werden. Das viergliedrige Schulsystem ist schlicht und ergreifend vollkommen überholt!

  • G
    Gerda

    Bemerkenswert: Für Behinderte ist an Schulen kein Platz, aber für Frauen und Homosexuelle diskriminierende Kulte soll, wie die taz heute berichtet, ein "Gebetsraum" eingerichtet werden.