Kiezläufer: "Ganz sauber ist keiner von uns"
Die Kreuzberger "Kiezläufer" stellen sich der Presse - und irgendwie doch nicht. Ihre Erfahrungen auf der "Straßenuniversität" qualifizierten sie, sagt der Projektleiter. Worin die bestehen, sagt er nicht.
Sie sitzen starr im Blitzlichtgewitter der Pressekonferenz, Schulter an Schulter im kleinen Laden des Quartiersmanagements (QM) an der Dresdner Straße. Den meisten von ihnen sieht man die Anspannung in dieser Situation deutlich an. Mahmoud, Kaio, Hakki und Selime sind vier der sechs "KiezläuferInnen", die seit ein paar Wochen durch die Straßen ums Kottbusser Tor ziehen, um mit Jugendlichen, die dort abhängen, Kontakt aufzunehmen. Ihre Dienstkleidung: schwarze Kapuzenpullis, auf deren Rücken "Streetworker" und "Sprich mit uns" steht.
Jugendliche auf der Straße ansprechen, herausfinden, warum sie die Angebote nicht annehmen, die ihnen der Bezirk, der Kiez bietet, erfahren, was sie stattdessen brauchen - einleuchtend fasst Kiezläufer Hakki die Aufgaben zusammen, die die sechs erfüllen sollen. Dass fünf von ihnen aus Einwandererfamilien stammen, ist auch logisch: Die meisten Jugendlichen am Kotti sind Migranten. Die Kiezläufer, die auch Kiezkinder sind, kennen deren Probleme. Sie selbst sind mittlerweile alle über 30, einen Job haben sie nun: Je 20 Stunden pro Woche streifen sie vom Nachmittag bis in die Nacht durchs Gebiet, bezahlt nach Minijobtarif.
Neu ist die Idee zu dem Projekt, das der Quartiersrat am Kotti auf die Beine gestellt hat, nicht. Auch in anderen Bezirken gibt es Projekte, bei denen Migranten als AnsprechpartnerInnen für Einwanderer eingesetzt werden (taz berichtete). Ausgerechnet hier im Zentrum Kreuzbergs, sonst Trendsetter in Sachen innovativer Sozialarbeit, läuft die Sache aber gerade ein bisschen schief.
Bereits im August begann das Projekt, doch erst ein Artikel im Spiegel machte die Öffentlichkeit aufmerksam: Von Straßen, die die Anwohner nachts meiden und in denen sich Polizisten "nur sporadisch blicken lassen", war dort die Rede, davon, dass der Senat selbst von einer "No-go-Area" spreche - und viel von der dunklen und kriminellen Vergangenheit der neuen Kiezläufer selbst. Das wollen sie nun klarstellen, mit dieser, der zweiten Pressekonferenz zum Projekt. Bei der ersten waren die Kiezläufer gar nicht dabei. Aber "der Druck der Presse war so groß", sagt Manuela Damianakis, Pressesprecherin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, die für die QM-Gebiete zuständig ist, dass man sie nun doch vorstellen wollte.
Natürlich kommt sie, die Frage nach dem Früher - und sofort kocht die Stimmung hoch. Dabei ist sie nicht mal unberechtigt: Es gehört zur Idee des Projekts, dass gerade ihre eigene Erfahrung die Kiezläufer qualifiziert. Sozialarbeiter sind sie alle nicht: Sie seien eben "Absolventen der Straßenuniversität", sagt Orhan Akbiyik, Geschäftsführer des Vereins Odak, der das Projekt organisiert. Ihn regen die Fragen der Journalisten sichtbar auf. Der böse Begriff "No-go-Areas" aus dem Spiegel-Artikel stammt, wie sich auf der Pressekonferenz herausstellt, nicht vom Senat, sondern aus ebendem Antrag, mit dem sein Verein sich um das Projekt beworben hat.
Die Kiezläufer selber bleiben erheblich cooler. Es stimme nicht, was im Spiegel über sie steht, sagt Selime, einzige Frau unter den Kiezläufern, leise und bestimmt. Sie habe eine Vergangenheit, aber "keine kriminelle". Mit ihren Erfahrungen wolle sie nun anderen Jugendlichen weiterhelfen: "Was du erlebt hast, sollen die nicht durchmachen", springt ihr der aus dem Iran stammende Kaio bei. Ja, sagt Selime, und: "Wir haben alle eine zweite Chance verdient." Sie möchte ihre nun nutzen. "Schreiben Sie: Ich habe einen Realschulabschluss und eine Ausbildung als Heizungsbauer", sagt der Kiezläufer Ali. Im Spiegel wurde er als Exmitglied einer "Türken-Gang" präsentiert.
Es sei "die persönliche Entscheidung der Einzelnen", was sie aus ihrer Vergangenheit erzählten, sagt Manuela Damianakis. Orhan Akbiyik wehrt die Fragen der JournalistInnen nach der Vergangenheit der Kiezläufer mit einem kurdischen Sprichwort ab: "Wer klein ist, macht in die Windeln, und das stinkt." Wenn er dann groß sei, rede man aber nicht mehr darüber. Es ist Kiezläufer Hakki, der den wichtigsten Satz ausspricht. "Keiner von uns ist ganz sauber", sagt er. "Das heißt aber nicht, dass wir das dasselbe noch mal tun würden."
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