Kieler Ministerium: Nur auf die Medien geschielt: „Tradition des Wegschauens“
Die Spitze des Kieler Sozialministeriums sollte von Problemen in Kinderheimen nur erfahren, sofern sie „öffentlichkeitsrelevant“ sind.
Die 9. Sitzung des im Herbst eingesetzten Untersuchungsausschusses zog sich an diesem Montag bis in den Abend hin. Zunächst hatte ein früherer pädagogischer Leiter ausgesagt und unter anderem eingeräumt, dass der mit den Behörden vereinbarte Fachkräfte-Schlüssel so gut wie nie eingehalten wurde. Ein weiterer Mitarbeiter berichtete von bis zu siebeneinhalb Stunden langen Gruppensitzungen bei Fehlverhalten. Zudem mussten die Mädchen „Einheitsklamotten wie in einer Strafkolonie“ tragen und durften sich nicht schminken. Ein pädagogischer Sinn sei ihm, dem gelernten Personenschützer, nicht erklärt worden.
Ähnlich kritisch hatte sich in der Sitzung am 8. Februar ein in dem Heim beschäftigtes Ehepaar geäußert. Die Kinder hätten beispielsweise tagsüber nie in ihre Zimmer gedurft. Diese seien abgeschlossen gewesen. Das umzäunte Gelände hätten die Mädchen nicht allein verlassen dürfen. Ausflüge mit den Kindern seien aus Kostengründen untersagt gewesen. Spielzeug und Bücher habe es nicht gegeben.
Alle drei Zeugen bemängelten, dass es keine Therapieangebote für die Kinder gab. „Wir haben natürlich darüber nachgedacht, dass das Missstände sind, die an die Öffentlichkeit müssen“, sagte die ehemalige Hausleiterin. Ihr Mann hatte sich nach eigenen Angaben ab Oktober 2013 mit Beschwerden an das Landesjugendamt gewandt. Zwölf Mal habe er die Heimaufsicht kontaktiert.
Im Mai 2015 brachte eine Anfrage der Hamburger Linken Missstände im Friesenhof ans Licht.
Die Rede war von entwürdigenden Maßnahmen wie Strafsport, nackt Ausziehen und Freiheitsentzug.
Anfang Juni wurden zwei der drei Heime wegen entwürdigender Methoden und fehlenden qualifizierten Personals geschlossen. Noch im selben Monat meldete die Einrichtung Insolvenz an. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch 26 Mädchen in den Häusern, betreut von 52 Beschäftigten.
Der Untersuchungsausschuss soll Vorgänge seit 2007 klären. In dem Jahr hörte das Jugendamt Dithmarschen auf, Kinder in die Friesenhof-Heime zu schicken.
Am 11. April vernimmt der Ausschuss weitere MitarbeiterInnen, am 18. Ex-Bewohnerinnen und am 2. Mai die Heimleiterin.
Doch diese Vorgänge wurden schlampig dokumentiert. Der Piraten-Abgeordnete Wolfgang Dudda fragte die als Zeugin geladene Staatssekretärin Anette Langner, ob auch die früheren Sozialminister Garg und Trauernicht dafür Verantwortung trügen und zitierte den brisanten Vermerk über die Aufgaben des Ministeriums „zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen“ aus dem Jahr 2006.
Dieser regelt die „Unterrichtung der Leitung des Ministeriums“ bei „besonderen Vorkommnissen“, zu denen auch Beschwerden von Mitarbeitern über kindeswohlgefährdende Zustände gehören. „Dringende Meldungen über besondere Vorkommnisse in Einrichtungen“ gingen bei der Heimaufsicht ein. Und weiter: „Ergibt der Sachverhalt eine öffentlichkeitswirksame Relevanz, die Interesse der Presse erwarten lässt, unterrichtet der Referatsleiter oder seine Vertretung über die Abteilungsleitung oder direkt vorab telefonisch VIII St, VIII M und/oder VIII LSB bzw. PS.“
Die letzten beiden Kürzel stehen laut Organigramm für „Stabsbereich“ und „Pressestelle“, „St“ und „M“ für Staatssekretär und Minister. Die derzeitige Sozialministerin Kristin Alheit (SPD) hatte stets behauptet, sie habe erst im Mai 2015 von den Vorwürfen gegen den Friesenhof erfahren. Nun wird klar, warum: Damals hatte die Hamburger Linke eine schriftliche Anfrage zur den Vorwürfen gestellt, spätestens da wurde der Vorgang wohl „öffentlichkeitsrelevant“.
Duddas im Ausschuss nicht zugelassene Forderung: Jetzt sollte auch die Rolle von Garg und Trauernicht untersucht werden. Sein Fazit: „Wenn in Heimen schlechte Pädagogik passiert und Mädchen sieben Stunden lang aussitzen müssen, scheint das die Politik nicht zu interessieren. Erst, wenn die Presse danach fragt.“ Es habe sich aufgrund von Personalmangel eine „Tradition des Wegschauens“ entwickelt.
„So eine Anweisung wirkt, als ob es nicht um das Wohl der Kinder und Jugendlichen geht, sondern um das Ansehen der Behörden“, sagt die Hamburger Linken-Abgeordnete Sabine Boeddinghaus, die das Thema publik gemacht hatte. Auch in Hamburg, das über 90 Mädchen im Friesenhof unterbrachte, habe der Senat, „abgewehrt, statt aufzuklären“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“