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Kerstin FinkelsteinWir retten die Welt1,6 Kilometer mit dem Dienstwagen

Foto: privat

Neulich war ich mit dem Nachwuchs Eis essen. Wir radelten drei Kilometer zu einer der besten Eisdielen der Stadt auf der anderen Seite des Tiergartens. Als wir am Schloss Bellevue vorbeikamen, standen auf dem Gehweg Polizisten. Ich fragte, was los sei. „Wir haben einen neuen Bundeskanzler.“ Oh, dachte ich, vor drei Stunden hieß es noch Pleiten, Pech und Pannen – und nun gibt es schon die Siegerurkunde.

Wir gingen unser Eis essen – und sahen auf dem Rückweg den Vorplatz des Präsidentenschlosses mit Autos zugeparkt. Das erste fuhr vor, Bellevues Tür öffnete sich, der frische Zweitwahlgangskanzler trat heraus und stieg ein. In den folgenden Minuten stand ich und betrachtete eine Menge abfahrender Pkws, die von den Kindern hinsichtlich Marken, Ausstattungsmerkmalen und Preis kommentiert wurden. Ich selbst kenne bei Autos ja nur drei Kategorien: klein, groß und alberne Gebilde, bei denen ich immer denke, jemand hätte mit einer Luftpumpe ein normales Auto comicmäßig in Größe und Dicke verzerrt. Die vorbeidefilierenden Fahrzeuge waren alle groß und kosten um die hunderttausend Euro. Nacheinander bogen sie Richtung Bundestag ab.

Ein wahrhaft historischer Moment. Bundestag und Schloss Bellevue liegen nur 1,6 Kilometer auseinander. Fahrstrecke, nicht Luftlinie. Und wir sahen mit eigenen Augen, wie die knapp zwanzig Menschen, die in den kommenden Jahren politische Entscheidungen in Deutschland umsetzen werden, bei leichtem Sonnenschein und Frühlingstemperaturen gleichzeitig und doch einzeln unterwegs waren: 1,6 Kilometer hin, Urkunde bekommen, 1,6 Kilometer zurück. Jetzt können wir bezeugen, dass diese Crème de la Exekutive bei allem versammelten Sachverstand und trockener Analyse nicht auf die wirtschaftliche Idee gekommen ist, einfach einen Bus zu nehmen. Oder zumindest Fahrgemeinschaften zu bilden. Oder mit dem Fahrrad zu kommen.

Letztes Mal klemmte mit Cem Özdemir zumindest ein Minister seine Ernennungsurkunde auf den Gepäckträger. Und bewies damit, dass die Strecke auch aus eigener Kraft, in eigener Leistung bewältigbar ist. Die derzeitigen Kabinettsmitglieder brauchten für diesen höhenmeterlosen Biobike-Weg nicht nur jeweils ein Auto im Wert zweier durchschnittlicher deutscher Bruttojahresverdienste, sondern sogar einen Fahrer! Um anschließend zu einer ersten Sitzung zusammenzukommen und den Radverkehrsbeauftragten abzuschaffen. Radverkehr ist jetzt Chefsache.

Ich sehe da Challenge-Potenzial. König Abdullah aus Saudi-Arabien ist zum Beispiel mal die 90 Meter vom Adlon zum Brandenburger Tor mit dem Auto gefahren. Er hat damit bewiesen, dass es keinen Weg gibt, der zu kurz wäre, um nicht im eigenen Auto zurückgelegt zu werden. An der Bellevue-Ausfahrt musste der Kanzler übrigens stoppen: Eine Frau mit Kind im Lastenrad pedalierte auf dem Radweg vorbei. Vielleicht fliegt Merz das nächste Mal besser per Heli ins Bellevue.

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