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Kersten Augustin MaterieWarum sich Linke mit der Rente so schwer tun

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Vor einer Woche stand hier, dass das vorherrschende Gefühl dieser Tage darin besteht, verwirrt zu sein. Wo ist oben und unten, wo ist links? Mir geht’s auch so, beim Streit um die Rente.

Meine Kollegin Ulrike Winkelmann hat in dieser Woche einen glühenden Appell vorgetragen Wer sich links nenne, müsse sich mit der Rente beschäftigen. Sozialversicherungen seien neben Steuern nun mal der größte Hebel für Umverteilung. Was wir erlebten, sei der größte Angriff auf den Sozialstaat seit der Agenda 2010, und die Rente nur der Anfang.

Klingt eindeutig: Umverteilung, da bin ich eigentlich immer dabei. Trotzdem fällt es mir schwerer als meiner Kollegin, mich im Rentenstreit zu positionieren.

Verwirrung 1: Von den meisten Einzahlern und Beziehern wird Rente nicht als gesellschaftliche Errungenschaft verstanden, sondern als eigene Leistung (bei hoher Rente) oder Schicksal (bei niedriger). Auch weil ohnehin nicht alle einzahlen. Selbstständige, Ärzte und Beamtinnen machen ihr eigenes Ding, und eigentlich soll jeder privat vorsorgen. Deshalb wird die linke Forderung nach mehr Umverteilung auch in der Mittelschicht als Drohung verstanden. Kann man falsch finden und ideologisch verwirrt, ist aber so.

Statt darüber zu streiten, ob die Rente bei so oder so viel Prozent liegt, wäre es womöglich mehrheitsfähiger, Gleichbehandlung zu fordern. Wenn ALLE in EIN System einzahlen, kann die Rente nicht als Problem des Einzelnen abgetan werden.

Kersten Augustin ist Leiter des Inlandsressort der taz

Verwirrung 2: Die Jungen in der Union waren beinahe erfolgreich, weil sie ungewohnten Zuspruch erhielten. Nicht nur von der Arbeitgeberlobby, sondern auch in der taz. Weil nicht immer klar ist, wo oben und unten ist. Die Unionsrebellen sind nicht einfach beinharte Neoliberale, die Armutsrentner ärmer machen wollen. Sie weisen auf die dramatische demografische Entwicklung hin, und sie wollen Beamte in die Rente einbeziehen, was eigentlich eine linke Forderung ist. Hier bieten sich unverhoffte Koalitionen, die erfolgversprechender sind als der Ruf nach Umverteilung.

Verwirrung 3: Der Vergleich mit der Agenda 2010 führt in die Irre. Rot-Grün holzte am Sozialstaat, CDU und FDP klatschten Beifall, eine linke Opposition entstand. Heute kommen die Reformen aus einer Koalition der immer schwächeren Mitte. Scheitert diese Regierung, droht eine mit der AfD.

Die Verwirrung beim Thema Rente hat auch die Opposition erfasst

Das ist ein Dilemma. Einerseits braucht man die CDU als demokratische Kraft, weshalb linke Aktivisten ihr ein Denkmal vor die Parteizentrale bauen. Aber was, wenn die Angriffe auf den Rechtsstaat (Brosius-Gersdorf) und Sozialstaat (Rente, Bürgergeld) aus der Union kommen: Ist sie dann Gegner oder Verbündeter? Die Verwirrung hat auch die Opposition erfasst. In der Rentendebatte haben Grüne und Linkspartei die Rollen getauscht: Die Linkspartei enthielt sich, die Grünen lehnten die Reform ab.

Verwirrung 4:Wofür steht die SPD, nicht nur bei der Rente? Im taz-Interview hat Ex-Kanzler Scholz verteidigt, dass seine Partei in der Regierung den Status quo verteidige. Seine Vision: Der Staat müsse schneller und effizienter werden. Das ist ein bisschen wenig, wenn Rechtsextreme in Umfragen führen. Immerhin hat Scholz das tiefer liegende Problem beschrieben: Er nennt es in Anlehnung an den US-Autor Daniel Markovits die „Meritocracy Trap“ – der Irrglaube, alle Privilegien beruhten auf eigener Leistung. Auch die SPD ist in die Falle getappt, deshalb heißt ihr Parteimotto: Soziale Politik für Dich. Ich ich ich. Solange das das Weltbild der Sozialdemokratie ist, werden ihre Wähler sagen: Umverteilung? Not in my backyard.

Foto: Doro Zinn

Ja, Progressive sollten für die Rente streiten. Aber weil es um mehr geht als um Umverteilung, tun sich viele so schwer.

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