: Kempowskis Erbe
SENSATIONELL Literarischer Fund in einer Buchhandlung in Jever
An einem schönen Tag im Mai 2009 schlenderten zwei Kempowski-Fans nichts ahnend quer über den Kirchplatz der friesischen Kleinstadt Jever und ließen ihren Blick dabei in das Schaufenster der Buchhandlung Tolksdorf schweifen. Und blieben stehen. Denn sie hatten ein Tagebuch von Walter Kempowski erblickt. „Somnia“ stand auf dem Schutzumschlag. „Tagebuch 1991“. In der Buchhandlung stöberten die Fans dann noch drei andere Tagebücher von ihrem Lieblingsautor aus den Jahren 1983, 1989 und 1990 auf, und die Sensation war perfekt.
„Wenn diese Tagebücher echt sein sollten, wird man Kempowskis Familienromane über weite Strecken umschreiben müssen“, hat der Literaturhistoriker Volker Wichtigmann gegenüber Bild am Sonntag erklärt. „Aber wer soll das tun, wenn nicht ich?“
Zu der Aufregung über Kempowskis angebliche Spionagetätigkeit kommt nun also noch der Wirbel um seine Tagebücher hinzu. „Wir blicken da nicht so ganz durch“, heißt es von Seiten des Walter-Kempowski-Archivs in der Berliner Akademie der Künste. „Worum geht es denn da überhaupt?“ Es geht, ganz genau gesagt, um vier Tagebücher des Schriftstellers Walter Kempowski, der sich in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts großen Ruhm mit seinen Familienromanen erworben hat. Seine Tagebücher mit den Titeln „Sirius“, „Alkor“, „Hamit“ und „Somnia“ befinden sich zur Zeit im Besitz der Kunden Lars F. und Clemens B. aus Wittmund, die darauf pochen, dass sie die Bücher vollkommen legal erworben hätten. „Und die lassen wir uns auch nicht abspenstig machen“, hat Clemens B. sowohl im ZDF als auch auf seiner Homepage verkündet. „Die gehören uns!“
Inzwischen haben die Käufer der Tagebücher das eine oder andere Zitat daraus online gestellt. Der Tennisspieler Boris Becker, soll Kempowski am 23. Juli 1989 geschrieben haben, sei „das ergiebigere Show-Talent, da ist immer Spannung, weil er nicht wie Steffi langweiligerweise dauernd gewinnt. Ihr haftet was vom Reihenhaus an, man würde ihr einen Porsche nicht glauben. Ich gebe zu, daß mich Lüsternheit anfällt, wenn ich sie da herumhopsen sehe – was bei dem ‚Leimener‘ freilich nicht der Fall ist.“ Und am 7. Oktober 1991 soll Kempowski sich gefragt haben: „Was wohl Pastoren denken, wenn sie an einem vorüberfahren, der eine Panne hat.“ Interessant ist auch eine Eintragung aus dem April 1990: „Im TV eine Menschenmenge, die um eine eierlegende Riesenschildkröte herumsteht. Ich finde so was indiskret. Daß die da Eier legt, geht uns doch gar nichts an.“
Am interessantesten wäre jetzt allerdings die Antwort auf die Frage, wem das Copyright an Kempowskis Tagebüchern gehört. Dem Knaus Verlag in München? Den Erben? Oder den vorwitzigen Buchhandelskunden Lars F. und Clemens B.? Zwischen Jever und Mainz wird in Fachkreisen heftig darüber gemunkelt, daß die beiden Tagebuchbesitzer in Verhandlungen mit TV-Mogulen eingetreten sein sollen, denen eine Verfilmung der Tagebücher vorschwebe, mit Bruno Ganz als Kempowski und Ben Becker als Radiergummi.
„Das hat Kempowski nicht verdient“, urteilt der Prominentenpsychologe und Rebellenführer Eugen Egner. „Der Ratzefummel sollte dann ja wohl von Günter Grass gespielt werden. Obwohl, wenn ich’s mir überlege – ein echtes Requisit wäre wohl doch die weitaus bessere Besetzung …“
Ein Ende des Streits um die Kempowski-Tagebücher ist vorläufig noch nicht abzusehen.
GERHARD HENSCHEL