piwik no script img

Kemalismus in der KritikAbrechnung mit Atatürks Republik

Der Gründervater steht für die säkulare Türkei, in der Religion zur Privatsache degradiert wurde. Mit der AKP bekommen Islamisten die Chance auf Revanche.

Republikanische Werte verlieren an Bedeutung Foto: dpa

Die Abrechnung mit Atatürk, dem Staatsgründer der Türkischen Republik, ist seit jeher das Fundament, auf dem der türkische Islamismus basiert. Als politische Figur bot Mustafa Kemal Atatürk den Islamisten eine breite Angriffsfläche – durch die von oben herab diktierte Modernisierung und der strikten Orientierung an westlichen Werten.

Ihn zu kritisieren war aber lange Zeit keine Option, da ein breiter gesellschaftlicher Konsens ihn als eine Art nationale Heiligenfigur schützte. Zudem waren persönlich geartete Attacken, also die „Beleidigung“ Atatürks durch weitreichende Gesetzgebungen nahezu ausgeschlossen. So richtete sich die Verunglimpfung eher gegen sein Umfeld. Ismet Inönü, Atatürks Waffenkamerad und erster Ministerpräsident unter Atatürk, etwa war historisch betrachtet für die Islamisten ein weicheres Ziel.

Diffamierung als „Möchtegern-Napoleon“

Die Diskussion um Atatürk-Beleidigungen flammt in den letzten Wochen erneut auf. Pikanterweise durch eine Zeitschrift, die dem Schwiegersohn des Staatspräsidenten Erdoğan gehört. Die Albayrak Holding vertreibt mit der Albayrak Mediengruppe eine Reihe von regierungsnahen Publikationen, unter anderem die Zeitschrift Derin Tarih, die seit 2012 mit einer Auflage von 20.000 erscheint.

Barış İnce

Jahrgang 1982, arbeitet seit zehn Jahren als Redakteur für die Tageszeitung „Birgün“ und war dort zuletzt drei Jahre Chefredakteur. Mit einer verkauften Auflage von 30.000 Exemplaren zählt die linke Zeitung zu den Gewinnern der Gezi-Proteste und lässt sich in seiner politischen Ausrichtung, aber auch oft mit seinen pointierten Schlagzeilen ein bisschen mit der deutschen „taz“ vergleichen. Mehrfach wurde Ince wegen Beleidigung des Staatspräsidenten zu Geldstrafen verurteilt.

In der Mai-Ausgabe dieser Zeitschrift erschien ein angeblich von der Ex-Frau Atatürks verfasster Brief, in welchem sie ihn als „Möchtegern-Napoleon“ diffamiert. Erst nach einigem Protest wurde gegen die Zeitschrift wegen „Beleidigung des Andenkens unseres Staatsgründers“ ermittelt. Nun wurde sie vom Markt genommen, gegen die verantwortlichen Redakteure wurde ein Haftbefehl erlassen.

Kemalisten und Gülenisten unter einem Hut?

Doch kaum waren die öffentlichen Diskussionen abgeflacht, wurden am 19. Mai (einem von Atatürk begründeten Nationalfeiertag), leitende Redakteure der Zeitung Sözcü mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der Terrororganisation FETÖ (FETÖ steht seit dem Putschversuch im Sommer 2016 für die Vereinigung um Prediger Fethullah Gülen, Anm.d.Red.) in Polizeigewahrsam genommen.

Die Zeitung wendet sich explizit an kemalistische, republikanische und nationalistische Leser*innen und geriet aufgrund der nationalistischen Redaktionslinie geriet häufig in die Kritik von Demokrat*innen. Besonders wenn es um die Rechte der kurdischen Minderheit oder das enthusiastische Beklatschen von Haftstrafen für HDP-Politiker*innen ging, bekleckerte sich die Sözcü nicht gerade mit Ruhm.

Allerdings führte dieses zweifelhafte Image der Redaktion nicht dazu, dass die Verhaftung des Zeitungsinhabers von weiten Teilen der Gesellschaft toleriert wird. Im Gegenteil, viele empfinden es als absurd, dass die säkular-nationalistische Sözcü in einer Verbindung mit der Gülen-Bewegung stehen soll.

Religion, Ethnie und Rendite

Doch, wenn es nicht so ist: Weshalb wurden dann die Festnahme bei Sözcü angeordnet? Wird die AKP nun endgültig mit den Kemalisten und in gewisser Weise mit Atatürk abrechnen?

Die Politik der AKP basiert auf drei Werten: Religion, Ethnie und Rendite. Doch diese Werte korrespondieren nicht mit allen gesellschaftlichen Gruppen. Es gibt Symbole, bei deren Angriff sich sehr schnell ein Widerstand formiert, und für die modernen Schichten der Türkei ist dieses Symbol vor allem Atatürk, der für Säkularismus steht.

So wurden im Vorfeld des Referendums bei unzähligen „Nein“-Veranstaltungen inbrünstig Märsche und Lobeshymnen auf Atatürk gesungen. Eine Vielzahl der Menschen sind also davon überzeugt, dass Erdoğan mit der Republik und Atatürk im Clinch liege. Und man kann wahrlich nicht das Gegenteil behaupten.

Weltherrschaftsfantasien von Islamisten

Der türkische Islamismus verfolgt die These, dass der Aufstieg einer Weltmacht in den Händen einer islamischen Einheit liege. Doch als das Osmanische Reich vor hundert Jahren auseinander fiel, war die Auflehnung gegen die Besatzung Anatoliens eher nationalistisch denn islamistisch geprägt. So beobachteten verschiedene religiöse Geistliche und ihre Anhänger den Unabhängigkeitskampf Mustafa Kemal Atatürks mit Argwohn.

Angestachelt von den Besatzungsmächten und dem in die enge getriebenen Osmanischen Reich, sprachen religiöse Führer Fatwas gegen die Unabhängigkeitsbewegung des Landes aus. Trotz dieser Ablehnung gelang es Mustafa Kemal und seinen Freunden, das Land in eine westlich orientierte Richtung zu führen. Den Untergang der Osmanischen Großmacht erklärte er sich nämlich mitunter mit der fehlenden Anbindung an die Moderne und an religiöse Kräfte, mit denen er möglichst schnell zu brechen versuchte.

Mit der teilweise unter Zwang durchgesetzten Modernisierung der Türkei durch Atatürk wurden religiöse Sekten und Gemeinden in den Untergrund gedrängt. Heute wird deutlich, dass diese sich seither organisiert haben.

Erfolg bei Armen und in der Provinz

Jede rechte Partei hat versucht, mit islamistischer Unterstützung auf Stimmenfang zu gehen, da islamistische Gruppierungen vor allem in den provinziellen und verarmten Regionen erfolgreich und gut vernetzt waren. Dort nahm man ihnen ab, dass die ökonomischen und sozialen Probleme der Türkei von der „Areligiösität“ herrührten.

Soziale und ökonomische Probleme auf eine fortschrittlichere Art zu lösen war das Ziel der Sozialisten, die besonders in den Jahren 1960-1980 erstarkt sind. Nationalistische Faschisten und Islamisten jedoch drängten diese linken Gruppen zurück, bis sie mit dem Militärputsch am 12. September 1980 das Feld vollends den Islamisten überlassen mussten.

Heute bündel sich islamistische Gruppierungen unter dem Dach der AKP. Was ihnen in der Vergangenheit verwehrt wurde, erhalten sie nun mit dem Wohlwollen der Regierungspartei. Stiftungen oder Schülerheime schießen wie Pilze aus dem Boden, öffentliche Ausschreibungen werden ihnen zugespielt, fundamentalistische Lehren und Praktiken finden mittels konservativer Bildungsstätten genügend Anhänger.

Republikanische Opposition zum Schweigen bringen

Die AKP kann man als eine Art Koalition zwischen Partei und religiöser Sekte bezeichnen. Den öffentlichen Dienst hat sie vollends der Kontrolle der religiösen Orden übergeben. Von der Gülen-Gemeinde weiß man inzwischen, dass sie in der Justiz und innerhalb der Polizei besonders viele Anhänger hatte, bis es zur Konfrontation mit Erdoğan kam. Dass morgen oder übermorgen nicht eine andere religiöse Sekte das Gleiche versuchen wird, dafür gibt es keine Garantie.

Die AKP verstärkt mit ihrer neoliberalen Politik den wachsenden Widerstand der Säkularen, der Aleviten und der Kurden. Korruption und Vetternwirtschaft sind nur zwei der unzähligen Probleme, die zu neuen Bündnissen unter den Betroffenen führen können.

Atatürkbeschimpfungen während und nach dem Referendum sowie die Inhaftierung von Sözcü-Mitarbeitern sind Vorboten für die Niederschlagung der letzten oppositionellen Kräfte durch die AKP. Denn, was die AKP heute erreichen will, ist nicht der Sözcü-Redaktion einen demokratischen Dämpfer zu verpassen. Es geht darum, die republikanische Opposition zum Schweigen zu bringen – mit den Symbolen der Republik zu spielen, um den Widerstand zu brechen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • "…Von der Gülen-Gemeinde weiß man inzwischen, dass sie in der Justiz und innerhalb der Polizei besonders viele Anhänger hatte, bis es zur Konfrontation mit Erdoğan kam.…"

     

    Das halte ich angesichts von derzeit 146.00 ohne Anklageschrift Inhaftierter - Staatsbediensteter - Tendenz steigend - für ein mehr als gewagte These. Sie folgt letztlich der menschenverachtenden Propaganda Erdogans & stellt dessen abstrusen Vorwürfe als zutreffend dar.

    Die inhaftierten "Kassationsrichter sitzen in Einzelhaft & alle werden mit einem rechtsstaatlichen Verfahren Hohn sprechenden Verfahren mittels "Fragebögen" "zur Gruppe" zur Selbstbezichtigung & Denunziation ihrer Familienangehörigen wie Dritten bedrängt. Eine einzele vertretende türk. RA Frau Prof (?) hat diese absurden rechtsstaatswidrigen Praltiken & Usamcen vor ein paar Wochen in einer gut besuchten öff. Veranstaltung in Düsseldorf DGB-Haus - leider ohne tazis - eindrücklich geschildert!

    "Gülen-Bewegung" - klassische Sündenbockfigur - nutzbar gegen jegliche!! Opposition!

     

    Zumindest (Übersetzung!) sprachlich mißlungen ist auch -

    "…Der Gründervater steht für die säkulare Türkei, in der Religion zur Privatsache degradiert wurde. Mit der AKP bekommen Islamisten die Chance auf Revanche.…"

     

    Religion als nicht staatliche - sondern eben als private Sache - also Trennung von Staat & Religion/Kalifat/Kirche ist keine Degradierung - sondern Charakteristikum - ja Unterpfand säkularer Staaten.

    Das Gerede von "Degradierung" ist mit Verlaub klassischer bekannt instrumentalisierter

    Erdogan/AKP-Sprech!

    Nichts anderes!

    • @Lowandorder:

      Nachklapp - die angezogene Veranst.

       

      "Notstandsstaat Türkei

      Dienstag, 16. Mai 2017, 19.30 Uhr

      DGB-Haus, Arthur-Hauck-Saal, I. Etage Friedrich-Ebert-Str. 34-38, 40210 Düsseldorf

      Referentin

      Prof. Dr. Öykü Didem Aydin (Rechtsanwältin)

       

      Wir laden ein zu einer Informations- und Solidaritätsveranstaltung mit Erläuterungen zu den Notstandsverordnungen in der Türkei.

       

      Sie wird berichten über die immer noch fortdauernden Massenentlassungen und -Verhaftungen in der Türkei. Selbst nach den geschönten Regierungsangaben erfolgten seit dem gescheiterten Militärputsch über 100.000 Entlassungen und 47.000 Verhaftungen von Mitgliedern des öffentlichen Dienstes, darunter viele tausend Richter*innen und Staatsanwält*innen. Auch viele hundert Rechtsanwält*innen fielen der staatlichen Willkür zum Opfer. Infolge der Massenentlassungen und -verhaftungen, Einschüchterungen und Beseitigung wirksamer Rechtsmittel, aber auch aus finanziellen Gründen haben die Opfer kaum eine Möglichkeit sich rechtlich zur Wehr zu setzen.

       

      Deshalb freuen wir uns, dass es uns gelungen ist Frau Prof. Dr. Öykü Didem Aydin, die sich nur für 3 Tage in Deutschland aufhalten wird, kurzfristig als Referentin für diese gemeinsame Veranstaltung gewinnen zu können. Frau Prof. Aydin lehrt an der Universität Hacettepe/Ankara und ist Mitglied der Venedig-Kommission des Europarats, Präsidentin der Vereinigung der Anwälte und Menschenrechtsverteidiger ohne Grenzen in der Türkei und Verteidigerin von Murat Arslan, dem inhaftierten Präsidenten der verbotenen türkischen Richterorganisation YARSAV. Damit bietet sich uns die einmalige Gelegenheit Informationen aus erster Hand zu erhalten und eine fundierte Diskussion mit einer renommierten Verteidigerin aus der Türkei zu führen."

      & Ihr Aufsatz dazu -

      Betrifft Justiz "Das große Aufräumen des Staates unter

      Notstandsregeln" von

      Öykü Didem Aydin http://betrifftjustiz.de/wp-content/uploads//texte/frame.php?ID=BJ%20128_Aydin.pdf

  • Zusammengefasst es geht um weiter Islamisierung des Staates, mit einem Ziel am 23. April 2023 (100. Jahr der Republik) den „Kalifat-Staat“ auszurufen.

    Ob Erdogan sein Ziel erreicht ist eine andere Frage.